Kriegszeit

gefunden in Avalanche Nr. 6 – anarchistische Korrespondenz
erschienen in Subversions Nr. 5 – Revue anarchiste de critique sociale

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Die Kriege vorantreibend (die militärischen Interventionen in Zentralafrika, Mali und Syrien gehen weiter), ergriff die sozialistische Regierung Frankreichs die Gelegenheit der Angriffe gegen Charlie Hebdo und die Supermärkte im Januar 2015, um klarzustellen, dass Frankreich sich „im Krieg“ befände. Dieses Update des Krieges gegen die inneren Feinde in Wort und Tat, hat juristische wie repressive Konsequenzen, wie zum Beispiel das neue Geheimdienstgesetz, dass das Terrorgesetz nur wenige Monate nach seiner letzten Verschärfung abermals ausbaut. Zum „Vigie-Pirate“-Plan kommt nun die Operation „Sentinelle“, die den Köpfen und öffentlichen Orten mit ausschweifender Militarisierung einen kräftigen Khaki-Stich verpasst. Die sichtbare, langfristige Präsenz von bewaffneten Soldaten betrifft nicht länger nur den öffentlichen Nahverkehr, sondern auch jede Straßenecke. Mission und Propaganda gehen Hand in Hand.

Im Kontext dieses Programms zum „Schutze des nationalen Territoriums“ hat die Frage der Grenzen ganz besonderes Gewicht. Der Staat muss Maßnahmen ergreifen, um einige daran zu hindern, das Land zu verlassen (um zum Beispiel in Syrien zu kämpfen)  – andererseits ist ganz Europa sehr beschäftigt, der an die Grenzen drängenden Ströme von Migrant_innen Herr zu werden. Der süße Traum von durch die Mächtigen kontrollierter Migration (denken wir nur an den Exodus ehemaliger Ackerbauern in Richtung der Industrie-Städte, den Import von Arbeitskräften in die Kolonien und den neuerdings beliebten Euphemismus „selbstgewählter“ Migration…) wurde von den Bewegungen Hunderttausender nieder gerannt. Diese Wanderungen wurden offensichtlich vom Vortrieb der kapitalistischen Dampfwalze verursacht (Zerstörung von Lebensräumen, Kriege…), sind aber zunehmend unkontrolliert und entsprechend problematisch. Mehr oder weniger freiwillig Exilierte durchbrechen die Grenzen, greifen häufig die Beschützer dieser an und sähen eine ganze Menge Unordnung im europäischen Grenzsystem. Nun tun die europäischen Staaten alles, um die Dinge wieder unter Kontrolle zu kriegen, wie gewohnt durch das Errichten von Stacheldrahtbarrieren, zwischen Ungarn und Serbien, dann Kroatien, und mittlerweile auch zwischen zwei Schengen-Längern: Slowenien und Österreich. Die Rüstungs-Darlehen und Truppenverstärkungen in Slowenien und der Einsatz der Armee in Österreich zeigen einmal mehr, wie sehr Grenzen auch militärische Domäne sind.

Wenn die Migrant_innen ihre Routen ändern, abhängig von immer neuen Hindernissen, modifizieren auch die Staaten ihr Grenzschutzarsenal. Die Drecksarbeit an andere weiterzugeben ist europäische Gewohnheit, also gibt es Verhandlungen mit Ländern, die als sogenannte Pufferzonen fungieren könnten – die Vereinbarung mit der Türkei beinhaltet 6 „Registrierungs-Zentren“ und einen Ausbau der Kapazitäten der Küstenwache. Der „humanitäre Korridor“, den die Herrschenden vorgeben über den Balkan errichtet zu haben wird wahrscheinlich wieder geschlossen, Frontex sendet seine Truppen an die griechisch-mazedonische wie die griechisch-albanische Grenze und seit Oktober läuft die EU-Operation „Sofia“ mit 9 Kriegsschiffen, Helikoptern und Jets, um Schlepper aufzuspüren und nach Italien zu bringen. Dem spanischen Modell von Ceuta und Melilla, wo die Guardia Civil bereits scharf schießt, scheinen goldene Tage bevorzustehen, auch wenn selbst dort nicht alle Grenzübertritte verhindert werden können.

Bisher scheint es fast so, als würde die sogenannte „Flüchtlingskrise“ – keine Bezeichnung käme gelegener, um die rücksichtslose und strukturelle Normalität dieses Systems als bloße Funktionsstörung zu präsentieren und gleichzeitig noch die Humanitäts-Karte zu spielen – die europäischen Staaten tatsächlich überfordern. Auch wenn sie offensichtlich nicht die Ursachen bekämpfen wollen, die sie selbst erschaffen haben, müssen sie nun dennoch mit den Konsequenzen umgehen. Der Deal, den die Herrschenden vorschlagen, ist so offensichtlich, wie widerwärtig: Das Willkommenheißen der „guten Flüchtlinge“, der „wahren Opfer“ geht Hand in Hand mit dem „Entfernen“ derer, die nicht in diese Kriterien passen – in anderen Worten, die gewaltsame Deportation derer, die nicht den Asylkriterien entsprechen, so schnell wie möglich. Diese Kriterien sind sehr flexibel, und die Gesetzgeber arbeiten hart daran, sie zu verschärfen. Beispielsweise wird die Liste der sogenannten „sicheren Herkunftsländer“ ständig erweitert, in welche Asylsuchende dann schneller abgeschoben werden können. Da die Zahl der Abgewiesenen in die Hunderttausenden steigen wird, arbeiten die europäischen Staaten und Frontex an Plänen für kollektive Deportationen. Ausserdem droht die EU Ländern, die nicht bereit sind, Wirtschaftsflüchtlinge wieder aufzunehmen, mit ökonomischen Sanktionen und dem Einstellen von humanitären Hilfsprogrammen.

Gigantische Selektionsoperationen werden notwendig sein um festzustellen, wer „berechtigt“ ist, den Status des Flüchtlings zu haben (momentan vor allem bei Menschen aus Syrien, Eritrea und Irak) und sicherzugehen, dass andere nicht weiterhin die Verwaltungen verstopfen. Glücklicherweise sind die „Hotspots“ für diese Selektion in den Ankunftsländern (5 in Italien und 3 in Griechenland) noch nicht fertig, sodass viele Migrant_innen sich entscheiden, vor ihrer Registrierung in der Natur zu verschwinden (andernfalls würden sie nach Möglichkeit Identifiziert, müssten Fingerabdrücke abgeben und zwangsläufig Asylanträge im Ankunftsland stellen, mit direktem Transfer in ein Abschiebezentrum, sollten sie nicht „asylberechtigt“ sein).

Eine der Fragen, die sich der französische Staat gerade stellt ist also, wie ein „willkommenheißen“, d.h. identifizieren, registrieren, selektieren, unterbringen derer aussehen könnte, die es trotz der Polizeiblockaden wie in Ventimilla auf französisches Territorium geschafft haben. Der nächste Schritt wird sein, diejenigen einzusperren, die keine Bleibeerlaubnis erhalten haben, wie es jetzt schon hunderten passiert, die nicht das richtige Stück Papier in ihren Händen halten. Hierfür rationalisiert der Staat die existierenden Unterkünfte mit harter Hand, z.B. durch Ausstattung mit „Instrumenten, die die Identifikation des Herkunftslandes zum Zwecke der Beschleunigung der Rückreise bei negativen Asylbescheid ermöglichen“… solange die Eingesperrten nicht revoltieren, versteht sich.

In diesen Zeiten von relativer und mit Sicherheit nur temporärer Desorganisation scheint das Behindern dieser Selektionsoperationen und ihrer widerlichen Konsequenzen ein lohnenswerter Einsatz. Der Staat spielt mit dem permanenten Ausnahmezustand und appelliert an die nationale Einheit, auf dass die zerstörerische Maschine weiter normal funktioniere – es ist deswegen notwendig, Wege zu finden, diese Maschinerie zu sabotieren.

Wenn wir nicht das Funktionieren dieses Systems verbessern wollen, sondern im Gegenteil die existierende soziale Ordnung stürzen wollen, scheint es uns essentiell, das Streben nach Freiheit für alle gegen die ekelerregenden Parameter der Verwaltung, die die Macht in der „Flüchtlingskrise“ etabliert, zu stellen. Wir müssen uns Möglichkeiten der Intervention überlegen die es möglich machen, direkt und konkret gegen den Krieg, der gegen alle Unerwünschten geführt wird vorzugehen, gemeinsam im Kampf gegen Grenzen, Kontrolle und Einsperrung.

Grenzen

Seit dem Moment, dass die neue Welle der Immigration Frankreich erreichte, hat der Staat den Ton angegeben: Abläufe von Asylgesuchen – und deren mögliche Ablehnung – müssen beschleunigt werden, um administrative Grauzonen zu vermeiden, dank derer Ausländer_innen dann länger auf französischem Territorium verweilen könnten. Die Zeit zwischen den verschiedenen Phasen dieser kafkaesken Reise zu verkürzen steht ganz oben auf der Agenda und die Offiziellen der OFPRA (Institution zur Datenverarbeitung) sind angewiesen, die Neuankömmlinge so schnell wie möglich durch ihre Schleusen zu drängen. Somit sahen wir, wie diese besonders zudringlichen Bürokraten die Sicherheit und Ruhe ihrer Büros verließen und zu den Flüchtlingscamps eilten, Aktenordner auf den Schultern, um Informationen zu sammeln und die erste Auswahl treffen zu können – der Rest der Prozedur findet dann wieder am Schreibtisch statt. Personal der OFII, eine weitere Organisation, die sich mit dem „Willkommenheißen“ der Asylsuchenden befasst und eng mit dem „Amt für den Kampf gegen irreguläre Immigration“ zusammenarbeitet, ist ihrerseits verantwortlich für die schwierige Aufgabe, Anreize zu schaffen, mit irgendeinem Kandidaten zurückzukehren, der als „nicht in Frage kommend“ (für Asyl…) gelten kann, sowie, im Falle von Residenzpflicht, dem Transport zu diesem Ort.

Das institutionelle Netzwerk, das für den dreckigen Job der Identifizierung und Dokumentation verantwortlich ist, wird nach und nach von den Organisationen abgelöst, die die Unterbringung der zur Verwaltenden realisieren, beispielsweise der „Association Emmaüs“, „Aurore“ oder der Gruppe „SOS“. Dennoch unterliegt diese Art der Unterbringung natürlich der Kontrolle der administrativen Prozesse-und OFPRA und die Präfektur haben Zugang zu den Listen der Untergebrachten, mit ihrer Nationalität und Situation. Die Unterbringung von Asylsuchenden ist ein millionenschweres Business für die Firmen, die vom Staat bezahlt werden. Die erfolgreichsten auf diesem blühenden Markt sind Adoma und Aftam (die jetzt Coallia heißen), danach kommen „Forum Réfugiés“ and „France Terre d’Asile“. Der französische Staat hat jahrelang den Bau von Verwahrzentren bevorzugt, sucht sich jetzt aber immer mehr Vertragspartner, die sogenannte „CADA“ (Zentren für Asylsuchende), insbesondere „CPH“, temporäre Heime, unterhalten.

Unter dem Deckmantel der Humanität bedeutet die Verwaltung von Asylsuchenden durch diese Institutionen doch in erster Linie die Kontrolle ihrer Existenz: die Pflicht, einem Ort zu sein, den du dir nicht ausgesucht hast, Integrationsstunden im Tausch gegen ein bisschen Geld – wann führen sie die Essensmarken, mit denen man nur in bestimmten Märkten einkaufen kann, ein? Die gefängnisartigen Verhältnisse (interne Regeln, keine Besuche, Nachtruhe, Überwachung durch Sozialarbeiter…) in den temporären Heimen, die normalerweise für  Obdachlose existieren, hatten bereits die Rebellion oder den (illegalen) Auszug vieler Migrant_innen zur Folge.

Die Frage des „wilden Umherstreifens“ von Migrant_innen ist ein großes Problem für die Kontrolle des Staates über die öffentliche Ordnung. Damit ist das Entstehen von Sammelplätzen, zum Teil sogar in improvisierten Camps, und möglicherweise von Orten der Selbstorganisation, die sich der Kontrolle entziehen und die Grenzen von Kategorie und Status hinter sich lassen, untragbar für den Staat. In Paris wie Calais wurden Camps und Besetzungen aus diesem Grund geräumt. Ganz in guter alter demokratische Tradition geht die direkte, brutale Polzeiintervention (oder ihre Androhung) Hand in Hand mit einer Armada humanitärer Gruppen, die der institutionalisierten Gewalt ein präsentables Bild geben und ein wenig Hilfe offerieren. Das Rote Kreuz bildet die Avantgarde dieser humanitären Armee. Und lasst uns nicht vergessen, dass die Entscheidungen diesbezüglich von Bezirksregierung und Stadtrat gemeinsam getroffen wurden – und das städtische Angestellte der Stadt Calais eifrig an der systematischen Zerstörung von Zelten beteiligt waren.

Die „Umverteilung“ von menschlichen Wesen, wie Rohstoffe, ausgehandelt durch die Regierungen und Verwaltet durch die europäischen Technokraten, wird auf dem nationalen Territorium penibelste gehandhabt. Asylsuchende aus er „evakuierten“ Schule von Paris wurden am 23. Oktober angewiesen, in Busse zu steigen, deren Ziel unbekannt blieb… einige fanden sich sogar in Auvergne wieder (400km von Paris entfernt…). In Calais wurden seit dem 21. Oktober 600 Personen festgenommen und umverteilt – erst mit privaten Maschinen, dann mit gemieteten Flugzeugen, um dann in verschiedenen Verwahrzentren eingesperrt zu werden (Marseille, Nimes, Rouen, Toulouse, Vincennes und Mesnil-Amelot). 400 andere, die den sogenannten „Jungel“ freiwillig verließen, wurden in sieben verschiedene Regionen zerstreut. Aufteilung, Zerstreuung ist eine vielpraktizierte Strategie zur Zerstörung von allen möglichen Bindungen gegenseitiger Hilfe und Solidarität. Der Staat rief die Stadtverwaltungen – humanitäre Show und finanzielle Kompensation zugleich – auf, sich an dieser Umverteilung zu beteiligen, wobei das Interesse an der Arbeitskraft der Asylsuchenden sicherlich keine untergeordnete Rolle spielt. Was ist normaler in einer Welt, die auf Mobilität und Ausbeutung entlang der Gesetze des Marktes basiert?

Die Kontrolle der Migrant_innen, die Kontrolle ihres Aufenthaltsortes und ihrer Bewegungen zeigen uns, dass die Kontrolle der Grenzen sich nicht in den Grenzschutz-Bullen erschöpft. Die Militarisierung der externen Grenzen Europas durch Frontex und Absicherung der innereuropäischen Grenzen wird um die Ausdehnung der Grenzen auf das gesamte Territorium ergänzt – durch permanente Kontrolle. Eine Multitude von Mechanismen, die diese Kontrolle stärken und verbreitern sollen, aber ohne die Zirkulation von Menschen- und anderem Material zu beeinträchtigen, einem essentiellen Faktor kapitalistischer Ökonomie. Der Kampf gegen die Abschiebemaschinerie vor einigen Jahren zeigte schon einige Ziele konkreter Intervention gegen die Kontrolle über Menschen ohne Papiere, wie zum Beispiel Banken, Arbeitsagenturen oder die Bahnverkehrsbetriebe.

Kontrolle von Territorium und Population

In letzter Zeit hat die Kulmination des Kampfes gegen Terrorismus, klandestine Migration, Kriminalität und Betrug klargemacht, das der externe und interne Krieg eins sind und dass die Kontrollmechanismen sich immer besser ergänzen – und sich gegen alle richten, die unerwünscht sind.

Das Zauberwort heißt Sicherheit, paradoxerweise präsentiert als die primäre und gewichtigste Eigenschaft der Freiheit. Firmen, die sich auf das Trainieren, Rekrutieren und Ausstatten von Wachleuten spezialisiert haben, boomen derzeit. Die Herrschenden haben es geschafft, die Angriffe vom Januar zu nutzen, um große Akzeptanz für die immer stärker um sich greifenden Maßnahmen der Kontrolle zu schaffen. Neben der Präsenz von Soldaten im Alltag, nehmen Polizeipatroullien und Kontrollen immer mehr zu. Um das Gesetz besser durchsetzen zu können, bekommen sie immer mehr Mittel – Schusswaffen für die städtische Polizei, Training für Sicherheitsleute von Transportunternehmen durch die Armee, Nutzung von Drohen um Menschenansammlungen zu kontrollieren (z.B. während der kollektiven Angriffe auf die Grenze in Calais), aber auch, um Infrastruktur zu schützen (z.B. nutzt die französische Bahn-Firma SNCF Drohen, um ihre Netze gegen Sabotage zu schützen.)

Die Transportachsen sind logischerweise die Orte, an denen sich die unsichtbaren Grenzen zeigen. Die „Sicherung“ des Tunnels zwischen Frankreich und England (eine absolut tödliche Sicherheit, starben mittlerweile mindestens 17 Migrant_innen beim Versuch, ihn zu durchqueren) durch die öffentlich/private Firma „Eurotunnel“ und ihrer Frachtsparte „Europorte“ ist ein besonders offensichtliches Beispiel. Es sollte aber auch beachtet werden, dass sie SNCF die Installation der Zäune entlang der Bahnstrecken zum Hafen von Calais sicherstellt. Interne Grenzen sind aber nicht an einige spezifische Orte gebunden. Unabhängig von der täglichen Partizipation des Bahnpersonals der SNCF im Aufspüren und Festnehmen von klandestinen Immigrant_innen und anderen „verdächtig“ scheinenden, insbesondere zwischen Italien und Frankreich, sind Bahnhöfe immer auch Checkpoints, die Territorien eingrenzen. Die gemeinsame Verfolgung von nicht dokumentierten Personen durch  Kontrolleur_innen und Bullen ist schon seit langer Zeit üblich und wird meistens an Verbindungen praktiziert, die durch die Überwachung von Bewegungen als strategisch richtig erscheinen. Die jüngsten Maßnahmen, insbesondere nach dem versuchten Angriff in  einem Thalys-Zug (der von in zivil reisenden US-Soldaten unterbunden wurde), ist auch das Militär wieder befugt, Menschen und Gepäck in Zügen zu kontrollieren und zu durchsuchen. Dieser weitere Schritt von Firmen des öffentlichen Nahverkehrs und der Polizei zeigt, wie sehr die Verkehrsachsen teil eines allumfassenden Repressionsapparat sind. Dieser aktiven Beteiligung wird richtigerweise immer wieder mit Angriffen auf ihr Personal, Autos, Filialen und Infrastruktur begegnet.

Kontrolle geht aber auch von technologischen Einrichtungen aus und diese werden nach und nach weiter ausgebaut. Dieses Arsenal um Individuen und verdächtiges Verhalten aufzuspüren und zu verfolgen besteht offensichtlich auch aus Videoüberwachung (CCTV). Der Staat verfolgt das Interesse, CCTV zur einer unumgänglichen Totalität zu entwickeln, auch in kleineren Städten. In den Metropolen wird die Verbindung von Überwachung immer „smarter“ , die Verknüpfung von privaten und staatlichen Kameras zielt darauf ab, die dunklen Ecken systematisch zu verkleinern und alle Knotenpunkte zu nutzen, um die Ordnung und Normalität störende Individuen zu identifizieren und zu verfolgen. Überwachungskameras werden überall, immer wieder sabotiert – zum Beispiel durch in Brand stecken der elektrischen Trafos oder Zerstörung des Glasfaserkabel-Netzwerks.

Es sollte nicht unterschätzt werden, wie essentiell die Mittel moderner Kommunikation zum Sammeln von Daten zur Überwachung geworden sind. Sie gibt nicht nur die Identität einer Person preis, sondern gibt immer auch Hinweise auf ihre Bewegungen, Kontakte, Aktivitäten und Projekte. Es ist kein Zufall, dass Gaddafi und Assad Spionageprogramme bei französischen Firmen wie Amsys und Qosmos erwarben. Es ist nicht einfach, unter dem Radar zu bleiben, wenn man Instrumente wie Handys und Computer benutzt, die einen systematisch verraten; es ist vermutlich besser, diese Mittel zu neutralisieren…
Es würde den Rahmen sprengen, alle elektronischen Prothesen aufzuzählen, von denen das tägliche Leben zunehmend abhängig wird; auch ohne näher auf die Projekte vernetzter Städte („smart cities“) einzugehen. Einen Blick auf die vielen Mikrochip-Karten lohnt sich beispielsweise in vielen Fällen, mit denen wir munter die Datenbanken speisen; von offiziellen Behörden hin zu Banken, die von jetzt auf gleich Finanztransfers nachvollziehen und verhindern können, blicken wir auf die hierdurch umfassenden Möglichkeiten der „Terrorbekämpfung“ und „Kriminalitätsbekämpfung“. Die Essenz ist vermutlich, Wege zu finden, Stöcke in die Speichen der vermeintlichen Notwendigkeit von solcher Transparenz zu werfen, wohl wissend, dass es viele Akteure gibt, die von der Entwicklung, Herstellung und Installation dieser Maschinen der Herrschaft profitieren.

Unter dem beliebten Vorwand der „Verbesserung der Lebensqualität“ steht die Implantation von Kontrolltechnologien, sowie die Etablierung von „Checkpoints“ in direkter Verbindung mit der immer fortschreitenden Einbindung von Stadtplaner_innen und Konstrukteur_innen von Gefängnissen aller Art in die Gestaltung des urbanen Raums.

Wenn wir uns auf die Entwicklung moderner urbaner Zusammenhänge konzentrieren, zum Beispiel das Projekt eines „Great Paris“, dann sehen wir, dass hier wirtschaftliche Interessen und das Bedürfnis nach Kontrolle und Verwaltung der Bevölkerung zusammenkommen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die momentane Umstrukturierung der Städte die Etablierung großer repressiver Strukturen beinhaltet, wie zum Beispiel die Einweihung des „Französischen Pentagons“ in Balard und des  neuen Justizkomplexes in Clichy Batignolles. Auch kleiner Vororte werden in diese neue Ballungs-Struktur eingebunden, wie z.B. Issy-les-Moulineaux durch die Eröffnung des neuen Hauptquartiers der nationalen Militärpolizei.
Diese Neuausrichtungen gehen mit der Zentralisierung von Justizbehörden einher, was dazu führen soll, dass sie ihre schmutzige Arbeit noch effektiver verrichten können. Gleichzeitig hilft dieses Projekt dabei, die letzten Überreste populärer, intramuraler Stadtteile wegzuschaffen und die Besatzung konfliktreicher Quartiere zu vervollständigen. So wird das Ministerium des Inneren im Garance-Gebäude im 20. Bezirk angesiedelt, während das Justizministerium im 19. zentralisiert wird. Eines der Quartiere des Nationalen Forensischen Institute wird in den konfliktreichen Stadtteil Saint-Denis verlegt.

Wenn sozialer Frieden durch die Partizipation der Bürger_innen realisiert wird, durch  ein Paar Krümel vom Kuchen und marktwirtschaftliche Demokratie, lebt er auch von der Ausgrenzung der Unerwünschten, auch an vorgeblich öffentlichen Orten, organisiert entlang der Bedürfnisse der Ökonomie und Kontrolle, die zunehmend nur durch automatische Türen betreten werden können.

Die Masseneinsperrung in zunehmend zahlreichen und immer weniger zu unterscheidenden Einrichtungen (Gefängnisse für Minderjährige, Erwachsene, Ausländer, Verrückte…) und die Ausweitung der Möglichkeiten von Einsperrung „Zuhause“ und anderer „alternativer“ Strafkonzepte, die über die elektronische Fußfessel weit hinausgehen, tragen zur Entwicklung der Territorien zu einem riesigen Freiluftgefängnis bei. Die Realisierung dieser Konzepte  und ihre Profiteure, inklusive der Transportunternehmen, müssen dennoch auch einige Rückschläge einstecken. Das Niederbrennen von Shoppingzentren und öffentlichen Gebäuden, unter anderem Polizeistationen und Gerichte, während der Revolten von 2005 zeigte, wie sehr diese auch als Teil der alltäglichen Unterdrückung wahrgenommen werden. Ohne ins Detail zu gehen ist es gut sich ins Gedächtnis zu rufen, dass dies wahrscheinlich der Grund ist, aus dem die Architekturbüros angegriffen werden und Firmen wie Eiffage, Bouygues, Vinci, Spie-Batignolle regelmäßig Filialen, Autos und Baustellenmaterial einbüßen müssen.

Die Reihen durchbrechen

Wenn der Staat versucht, Konsens durch andauernden Krieg gegen einen vielgestaltigen inneren Feind zu etablieren, scheint die zivile Zustimmung eine Risse aufzuzeigen. An vielen Orten wird die Polizei zurückgedrängt oder angegriffen und der Feindschaft gegenüber dem Militär wird auch an vielen Orten mit verschiedenen Mitteln Ausdruck verliehen, Soldaten werden beschimpft, Militäreinrichtungen mit Steinen begegnet. Propaganda und Rekrutierungsprogramme treffen nicht nur auf Zustimmung, in Besançon wurde über Tage eine große Ausstellung der Armee unterbrochen und über Monate wurden in verschiedensten Städten Rekrutierungsbüros angegriffen.

Darüberhinaus ist der Staat damit konfrontiert, maximale Kontrolle zu realisieren, ohne die Maschinerie von Produktion und Konsum zu verlangsamen. Diese zeigt sich ganz offensichtlich im Transport-System: Die Anzahl „verdächtiger“ Pakete in Pariser U-Bahnen hat sich von einem Durchschnitt von 2-3 auf 70 pro Tag erhöht, im Januar wurden durch diese ein Dutzend von Verkehrsunterbrechungen provoziert, häufig bis zu 45 Minuten pro Alarm. Diese sich wiederholenden Verspätungen schränkten die Waren- und Menschenzirkulation so sehr ein, dass die Sicherheitsstandarts (vorübergehend) wieder reduziert wurden. Gleichzeitig wurden die Durchsuchungen von Taschen durch Sicherheitsleute an den Eingängen von Einkaufszentren nahezu wieder eingestellt, da diese ohne Zweifel negative Einflüsse auf die Bewegung von Waren hatten.

Aus einer Perspektive, die weit ab von Forderungen nach Reformen bestimmter Aspekte des Systems auf seine vollständige Zerstörung durch eine generalisierte Revolte abzielt, ist seine Fragilität und die existierende Feinschaft ihm gegenüber eine offensichtliche Einladung, Initiativen des Angriffs und der Zerstörung gegen alle Strukturen zu ergreifen, die es ihm strukturell erlauben, zu kontrollieren, zu deportieren und einzusperren.

In einer Zeit, in der das demokratische Regime mehr und mehr sein wahres Gesicht zeigt, das eines permanenten Kriegs der Mächtigen gegen die Enteigneten – in einer Zeit, in der patriotische, nationalistische und religiöse Reaktionäre offen ihre Ambitionen vertreten, ihre Ordnung zu etablieren, ist es eine der großen Fragen, wie wir Vorschläge zum Kampf mit eindeutig emanzipatorischer Ausrichtung vorgebracht werden können. Die Antwort kann keine einheitliche sein, aber sie muss klar über ihre Perspektiven und Methoden sprechen. Um dem Bestreben, Induviduen und Freiheit zu zerstören gefährlich zu werden, können sich diese Vorschläge nur an jene richten die, bewusst oder unbewusst, selbstorganisiert und ohne institutionelle Mediation kämpfen, durch direkte, offensive Aktion. Um sowohl mit der Atomisierung und der Normalität von Unterdrückung zu brechen ist es wichtig Wege zu finden, diese Initiativen und Kämpfe mit einer gewissen Kontinuität zu führen, auf der Suche nach potenziellen Echos und Komplizenschaften. Dies wird unserer Meinung nach möglich durch die Verbreitung von Analysen, spezifischer Information und resoluten, antagonistischen Aktionen innerhalb des sozialen Konflikts.

Die hier ausgeführten Aspekte von Reflexion und Aktion haben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sollen zu einem informellen Forum für Diskussionen und potenzielle Verbindungen zwischen Initiativen, die in diese Richtung gehen würden, beitragen. Hoffentlich verursacht, trifft und verstärkt dieser Beitrag Echos und Vertiefung von Diskussionen in verschiedenen Kontexten…