Traurige Stunde für Österreich

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Unweit der ungarischen Grenze fand die österreichische Polizei verwesende Leichen in einem abgestellten Lastwagen. Sie könnten im Fluchtwagen erstickt sein.

Gerichtsmediziner sichern Spuren am abgestellten LKW mit den Leichen auf der Autobahn Wien–Budapest nahe Parndorf (Ö). Foto: Roland Schlager (EPA, Keystone)

Wie lange der Lastwagen mit Kühlaggregat und slowakischer Werbung für Fleischprodukte am Rand der Autobahn stand, ist noch unklar. Vermutlich waren es 12 bis 15 Stunden. Mittwochabend soll er aus Ungarn über die Grenze nach Österreich gekommen sein. Donnerstagvormittag fiel einem Strassenarbeiter ein strenger Geruch und Flüssigkeit auf, die aus der Ladetür rann. Er informierte die Polizei, und die fand im Laderaum Leichen. In einer ersten Pressekonferenz gab die Polizei die Zahl der Toten mit «20 bis 50» an, die vermutlich erstickt waren. Ungenau blieb die Angabe deshalb, weil man den Wagen sofort wieder verschloss und nach der Sicherung des Tatorts in eine gekühlte Halle in der Grenzgemeinde Nickelsdorf brachte. Dort begannen die Ermittler am Nachmittag mit ihrer Arbeit im Laderaum des LKW. Heute Vormittag wollen sie die genaue Zahl der Toten bekannt geben, dann werden die Leichen nach Wien auf die Gerichtsmedizin überstellt.

Der Wagen stand in einer Parkbucht der Ostautobahn Wien–Budapest, in der Nähe der burgenländischen Gemeinde Parndorf, etwa 20 Kilometer vor der ungarischen Grenze. Der Verkehr ist hier zu jeder Tages- und Nachtzeit besonders stark, etwa 3000 Lastwagen nutzen täglich diese Transitroute, die über Süd­ungarn, Serbien und Bulgarien bis in die Türkei führt. In die Gegenrichtung kommen nun die Flüchtlinge. Wer es bis Parndorf schafft, hat zumindest die gefährliche und anstrengende Balkanroute hinter und Westeuropa vor sich.

Kein typisches Fahrzeug
Der Kühlwagen war ursprünglich im Besitz der slowakischen Fleischverarbeitungsfirma Hyza, die zum Konzern Agrofert des tschechischen Milliardärs und Finanzministers Andrej Babis gehört. 2013 verkaufte die Firma einen Teil ihres Fuhrparks, darunter auch diesen LKW. Der ungarische Kanzleramtsminister Janos Lazar sagte gestern auf einer Pressekonferenz in Budapest, dass ein rumänischer Staatsbürger in der Stadt Kecskemet für den Wagen ein provisorisches Kennzeichen bekommen habe. Vom Fahrer fehlt jede Spur.

Der burgenländische Landespolizeidirektor Hans Peter Doskozil schätzt den Todeszeitpunkt auf ein bis eineinhalb Tage vor dem Fund: «Vieles spricht dafür, dass sie schon tot über die Grenze kamen.» Der 7,5 Tonnen schwere Kühlwagen sei kein typisches Schlepperfahrzeug, so Doskozil gestern bei einer Pressekonferenz in Eisenstadt: «Normalerweise benutzen die Schlepper kleinere Lastwagen und Kleinbusse.»

Auf der beschwerlichen Balkanroute ist Ungarn für die Flüchtlinge zum am meisten gefürchteten Transitland geworden. Zwar werden sie registriert und bekommen einen Platz in einer Aufnahmestelle zugewiesen. Doch die Lager sind überfüllt, die hygienischen Verhältnisse katastrophal, und die Polizei ist teilweise brutal. Im Lager Röszke an der serbischen Grenze kam es diese Woche zu einer Schlägerei, weil die Polizei Asylbewerbern den Kontakt zu Journalisten verbieten wollte.

Viele Flüchtlinge wollen sofort weiter Richtung Westen, selbst wenn sie dafür wieder Schlepper bezahlen müssen. Auch der Bau des Grenzzauns an der ungarisch-serbischen Grenze verschafft dem Schleppergewerbe einen neuen Wachstumsschub. In der Nacht auf Donnerstag nahm die ungarische Polizei 21 mutmassliche Schlepper fest.

Österreich hatte bisher eher das Problem, dass die Flüchtlinge knapp nach der Grenze ausgesetzt wurden und sich ihren Weg nach Wien selbst suchen mussten. Das taten sie entlang der grossen Verkehrswege. In den vergangenen Tagen mussten die Züge zwischen Wien und Budapest immer wieder angehalten werden, weil sich Menschen auf den Gleisen befanden. Vor zwei Tagen starb ein Flüchtling auf der Autobahn. Pro Tag werden an der Grenze zu Ungarn etwa 300 Flüchtlinge aufgegriffen. Zur Zeit des grausigen Funds an der Autobahn besichtigte Innenministerin Johanna Mikl-Leitner gerade ein Sammellager im Burgenland. Sie sprach von einer «schwarzen Stunde für Österreich» und forderte härtere Massnahmen gegen Schlepper. Der burgenländische Grünen-Abgeordnente im EU-Parlament, Michel Reimon, entgegnete, dass ein härterer Kampf Flüchtlinge auf noch gefährlichere Routen drängen und noch mehr Menschen töten werde. In der burgenländischen Hauptstadt Eisenstadt fand am Abend eine Mahnwache für die Toten im LKW statt. In Wien schwiegen die Teilnehmer der grossen Westbalkankonferenz für eine Minute. «Wir können aber nicht so weitermachen», mahnte die EU-Aussenbeauftragte Frederica Mogherini: «mit einer Schweigeminute, jedes Mal, wenn es wieder Tote gibt.»