Morgen ist weit weg: Anarchistische Intervention gegen den Bau des Gefängnisses für Migrant*innen in Laval

übersetzt von montréal contre-information

Staatsbürgerschaft kann nur dann einen Wert haben, wenn die Kategorie der anderen, derer, die über diesen Status nicht verfügen, ebenfalls exisitiert. Damit diese Unterscheidung bestehen kann, muss sie vom Staat durchgesetzt werden. Dafür verfügt er über eine Anzahl verschiedener Werkzeuge. Die Abschiebung ist eines davon.

Die Abschiebung ist ein gewalttätiger Prozess, bei dem der Staat einem Individuum jegliche Autonomie und Handlungsfähigkeit raubt, um es aus dem von ihm beherrschten Gebiet auzuschliessen. Um dies zu tun, nutzt der Staat verschiedene Mittel. Eines davon ist das Internierungslager, allgmein bekannt als Gefängnis für Migrant*innen, in denen Sans-Papiers vor ihrer Abschiebung festgehalten werden. Menschen ohne geregelten Status können verhaftet und darin eingesperrt werden, bis sie in ein Flugzeug gesteckt werden, das sie in ein anderes Land bringt, teilweise in weit entfernte Gebiete, zu denen sie keinerlei Beziehung haben.

Der Staat hat in den letzten Jahren immer mehr Menschen abgeschoben und strebt danach, seine Kapazitäten dafür weiter zu erhöhen. Aufstockung des Personals der Canadian Border Service Agency (CBSA), Entwicklung neuer Mechanismen zur Kontrolle von Sans-Papiers, alternative Überwachungsmethoden wie die Fussfessel und der Bau neuer Internierungslager sind u.a. die staatlichen Instrumente, um seine Ziele zu erreichen. Die Regierung will in Laval, einer Stadt nördlich von Montreal, neben einem bereits existierenden Internierungslager ein neues sogenannt ‚humaneres‘ Lager bauen. Wir wissen jedoch alle, dass ein goldener Käfig ein Käfig bleibt. Das ist eine Provokation, ein Akt der Konfrontation, ein Angriff auf Sans-Papiers, auf unsere Communities, auf uns alle. Die aktuelle Migrationskrise wird sich angesichts des Klimawandels, Dürren, Kriegen und verbreiteten Konflikten in vielen Ländern nur verschärfen. Migrant*innen riskieren brutale Abweisungen der westlichen Welt, die sich um den Ausbau ihrer Grenzen gegen die anderen, die einfallenden Barbaren, bemüht. Die Medien haben kürzlich berichtet, dass die Regierung eine Erhöhung der jährlichen Abschiebungen um 30% anstrebt. Der Bau dieses neuen Gefängnisses trägt zur Umsetzung der kolonialen Mission des kanadischen Staates bei, indem es ihn seinen Zielen der Kontrolle jeglicher Aspekte des Lebens und des von ihm einverleibten Territoriums sowie der Stärkung der Kategorie der anderen näher bringt. Durch die Unsichtbarmachung der Tatsache, dass er selbst fremd ist in diesem von ihm kolonialisiertem Gebiet, auf dem er einen grossen Teil der Bevölkerung ausgerottet hat, lässt er seine Autorität gleichsam legitim erscheinen und nähert sich dem faschistischen Ideal der ‚Reinheit‘ an.

Es erscheint uns wichtig anzufügen, dass die Autor*innen dieses Texts weiss sind und in Kanada geboren wurden. Wir sind von der Drohung der Abschiebung oder Inhaftierung in einem Lager nicht direkt betroffen. In Solidarität mit all denen, die auf der Suche nach einer besseren Zukunft ihr Leben riskieren, entscheiden wir uns dennoch, gegen den Bau dieses neuen Gefängnisses zu kämpfen. Neben unserer Feindschaft gegenüber den Kontrollen von Sans-Papiers und den Internierungslagern besteht unser stetes Ziel in der Zerstörung der Herrschaft in all ihren Aspekten. Dies beinhaltet unter anderem alle Staaten und ihre Grenzen. Auch wenn wir über das Privileg der Papiere verfügen, sind wir nicht stolz darauf, Kanadier*innen zu sein. Wir verspüren keinerlei Zugehörigkeit zur nationalen Identität. Wir streben einen Kampf an, der weder auf die Billigung noch auf das Eingeständnis des Staates oder sonst jemandem hofft. Anstatt den Staat nach bürgerlicher Manier aufzufordern, die Abschiebungen einzustellen, entscheiden wir uns, unsere Privilegien zu untergraben und die Zahnräder der Abschiebemaschine zu sabotieren. Die Verantwortlichen der Einsperrung sollten nicht mehr länger in Ruhe schlafen.

Intervention

Wir wollen versuchen, unsere Energien auf informelle und dezentralisierte Weise zu koordinieren, mit dem Ziel, den Bau des neuen Gefängnisses für Migrant*innen zu stoppen. Wenn wir uns auf diesen spezifischen Kampf fokussieren, dann um in erster Linie effektive Resultate zu erzielen, aber auch, um damit anarchistische und antiautoritäre Ideen und Praktiken zu verbreiten. Das Gefängnis für Migrant*innen ist eine Komponente der komplexen Architektur der Macht, ein wichtiger Aspekt für den Staat und seinen Grenzen. Wir stellen uns gegen alle Gefängnisse, alle Formen der Einsperrung und der Herrschaft; hier versuchen wir allerdings, dieses Projekt, das nur ein Element in einem komplexen System darstellt, tatsächlich zu verhindern. Wir wünschen uns, dass andere Gefährt*innen mit ihren Bemühungen ebenfalls dazu beitragen, die Feindschaft zu vertiefen. Gleichwohl lehnen wir es ab, unser Handeln von der Zahl abhängig zu machen. Die Zeit ist mehr als reif.

Wie könnte ein Kampf gegen den Staat und seine Projekte aussehen? Es gibt nicht nur eine Antwort auf diese Frage und genausowenig eine magische Formel auf Erfolg. Auf jeden Fall gibt es aber gewisse Prinzipien, die uns helfen, kohärente Entscheidungen zu treffen, und die eine eventuelle Rekuperation von linken Politiker*innen verhindern. Diese Prinzipien sind auf all unsere Kämpfe übertragbar. Einige davon, wie die goldene no snitching-Regel, sind offensichtlicher als andere. Aber gehen wir ein bisschen weiter.

Ein erstes Element ist die Zurückweisung der Forderungen an den Staat. Diejenigen, die gegen ein spezifisches Projekt kämpfen, haben oftmals den Reflex, Forderungen zu formulieren. Forderungen zu stellen, bringt eine Erzählung mit sich, in der nur diejenigen Leute etwas verändern können, die Macht über andere ausüben. Durch die Delegation an Politiker*innen und Bosse, die anstelle von uns Entscheidungen treffen, ist dieser Reflex eine Negation unserer Freiheit und unserer Fähigkeit, selbst zu handeln. Wir möchten von dieser Art der Organisierung weg kommen, um einen Kampf zu lancieren, der diese Machtdynamiken umstürtzen kann und der die Dinge selbst in die Hand nimmt, ohne auf Erlaubnis zu warten. Wir wollen den Staat zerstören und nicht seine Legitimität stärken.

Verhandlungen können verführerisch wirken, wenn man glaubt, die Umsetzung seiner eigenen Ziele ist unmöglich. Die Demokratie will uns glauben machen, dass wir immer gewisse Zugeständnisse einräumen müssen. In einer solchen Situation ist jedoch keine Alternative akzeptabel. Kein komfortableres Gefängnis, kein sympathischerer Grenzbeamte und keine alternativen Kontrollmethoden von Sans-Papiers sollten toleriert werden.

Mit der Absicht, gewisse Ziele zu erreichen, entscheiden wir uns für die direkte Konfrontation, vielmehr als für Forderungen und Verhandlungen. Um den Bau dieses Gefängnisses für Migrant*innen zu verhindern, sind unserer Meinung nach verschiedene Formen des Angriffs auf all diejenigen, die das Gefängnis bauen wollen, die die Pläne entwerfen, die den Zement eingiessen, die die Absicht haben, Menschen darin einzusperren, die davon profitieren… unabdingbar. Die Form des Angriffs kann gemäss der Kapazität der Leute, dem Level an Vertrauen etc. variieren.

Die direkte Konfrontation bedarf keiner Hierarchien oder Zentralisierung. Wir denken, dass es notwendig ist, sich dezentral und informell zu organisieren. Dies bedeutet, dass wir keine formelle Einheit mit Mitgliedern und Plattformen begründen wollen. Wir wollen uns als Individuen mit anderen Individuen organisieren, mit denen wir Affinität teilen, das heisst Ideen, Praktiken und gegenseitiges Vertrauen.

Bei der informellen Organisation steht der Inhalt und nicht das Gefäss im Vordergrund. Nicht auf die Zustimmung einer Partei, eines Komitees oder einer Gruppe zu warten, macht unsere Interventionen wirkungsvoller. Damit gegenseitiges Vertrauen zwischen den Gefährt*innen entsteht und sich daraus ein expanisver Kampf entwickelt, ist ein gewisses Engagement jedoch essentiell. Es besteht aber ein Unterschied zwischen persönlichem Engagement und formeller Organisation.
Auf der einen Seite ist man für seine Ideen verantwortlich, auf der anderen ist man einer Formalität verpflichtet, die grösser ist als das Individuum und in der die Organisation als solche wichtiger als die Beziehungen und Analysen der Individuen wird. Sich regelmässig in grösseren Gruppen zusammenzufinden, um Informationen und Perspektiven auszutauschen ohne dabei auf zentralisierte Weise Entscheidungen zu treffen, scheint uns wünschenswert. Gefährt*innen haben die Tendenz, sich an unterschiedlichen Kämpfen zu beteiligen, ohne Kontinuität und mit Aktionen, die oftmals symbolisch bleiben, in dem Sinne, dass sie minimale Auswirkungen auf ihre Ziele haben. Diese Art der Beteiligung ermöglicht es nicht, eine expanisvere Konfliktualität zu schaffen. Es ist daher wichtig, gut über unser Handeln nachzudenken, die Verantwortlichen und die Kollaborateure der Herrschaft und Einsperrung zu identifizieren und anzugreifen, unsere Analysen zu teilen und Perspektiven für einen mittel- oder langfristigen Kampf zu entwickeln. All diese Energien müssen jedoch in Bewegung bleiben und nicht – unter dem Vorwand der besseren Kontinuität – in formellen Organisaionen eingeschlossen werden.

Mit dem Ziel, einen breiteren Kontext der Kämpfe zu schaffen, fallen viele Menschen, die sich als Anarchist*innen, Revolutionäre oder Autonome identifizieren, in die quantitative Falle der Masse und der öffentlichen Meinung und fangen an, sich mit der Linken zu organisieren und mit den Massenmedien zu kommunizieren. Aber zu welchem Preis? Es ist offensichtlich, dass jegliche Macht, wie sozial sie auch sein mag, dazu beiträgt, die Ketten, die uns an sie binden, zu stärken. Wir müssen unsere eigenen Mittel nutzen (Zeitungen, Zines, unabhängige Internetseiten, Plakate, Graffiti, unterstützende Infrastruktur) und die Grundlagen unserer Kämpfe gemäss unseren eigenen Prinzipien schaffen; anarchistische Prinzipien, die sich im Bruch mit den Institutionen befinden. Um die sozialen Beziehungen umzustürzen und die Herrschaft zu zerstören, müssen wir solide anarchistische Grundlagen entwickeln und damit aufhören, der linken Bewegung zu folgen und stattdessen die Kraft zum Kämpfen in uns selbst finden.

Der Staat wird nicht aufhören, einzusperren, abzuschieben, neue Gefängnisse zu bauen, zu beherrschen, auszubeuten, die schlimmsten Gräueltaten juristisch zu schüzen oder seine autoritären, rassistischen und kolonialen Ideologien zu propagieren, solange er nicht mit dem Aufstand, der Sabotage seiner Strukturen und der permanenten Revolte konfrontiert und zerstört wird.

Schwachstellen gibt es überall; finden wir sie.


mehr Informationen auf stopponslaprisons (französisch und englisch) oder hier (deutsch).