Calais, Nordfrankreich
Seit Jahren wohnen hier mehrere tausend Menschen zusammengerottet in einem Camp. Sie leben vorwiegend in kleinen ungeheizten Holzhütten, manche in Zelten. Viele dieser Menschen mussten zusehen, wie Bagger grosser Baufirmen, begleitet von französischen Polizist_innen ihre Hütten plattwalzten. Zuletzt passierte das Anfang dieses Jahres, als im Januar ein äusserer Streifen des Camps und mehr als einen Monat später die komplette südliche Hälfte des Camps geräumt wurde.
Quasi nächtlich müssen sich die Bewohner_innen in dichtem Tränengas zurechtfinden, welches die Polizei von ausserhalb abfeuert, um die Menschen im Camp zu zermürben und zu demütigen. Nicht selten fallen Hütten, angezündet von den Granaten, dem Feuer zum Opfer. Wer das Camp in der Nacht verlässt, setzt sich der Gefahr aus, von Faschist_innen und Polizist_innen (je ziviler desto gefährlicher) ins Spital geprügelt zu werden.
Dieser Lebenssituation setzen sich die Bewohner_innen wegen zweierlei Gründen aus. Erstens wollen die meisten von ihnen nach Grossbritannien, zweitens fehlt ihnen ein kleines Stück Plastik in Form einer Identitätskarte oder eines Passes. Ein Stück Plastik, welches Menschen anhand eines Konstrukts zur Aufrechterhaltung der bestehenden Mächte in Zugehörige und Nicht-Zugehörige gewisser Gebiete unterteilt. Dadurch werden Grenzen und deren Schutz legitimiert und im Sinne dieses Konstruktes sogar notwendig macht. So bleiben den Bewohner_innen des Camps in Calais nur noch diejenigen Möglichkeiten den Ärmelkanal zu überqueren, die mit den herrschenden Gesetzen brechen.
Vom Camp aus versuchen sie unbemerkt in Lastwägen zu steigen, die grösstenteils entweder per Fähre oder unterirdischem Zug nach Grossbritannien übersetzen. Das Unterfangen ist aufwendig, gefährlich und praktisch ein Ding der Unmöglichkeit. Mit Hilfe mehrerer Scans an der Grenze werden fast alle die es versuchen gefunden und anschliessend zusammengeschlagen wieder ins Camp gebracht. Kontrolliert werden z.B. Sauerstoffgehaltsentwicklungen und das Vorhandensein eines Herzschlags in Lastwägen. Immer wieder werden im Eurotunnel Leichen entdeckt – Menschen, die nach dem letzten Zug den Weg Richtung England antreten, nicht schnell genug sind und vom ersten Zug des Morgens überrollt werden. Die ständig zunehmende Überwachung und Militarisierung der Grenzen und derer, die sie überqueren wollen, lässt auch in Calais die Zahl der Toten steigen.
Ein weiterer Teil dieser Entwicklungen ist der Bau einer Mauer zwischen dem Camp und der Autobahn. Seit Beginn dieses Monats sind Arbeiter_innen damit beschäftigt, diese weitere Erschwerung der Überreise in Angriff zu nehmen. Ausserdem walzen in dem Moment, in dem du das liest, wahrscheinlich gerade die Bulldozer grosser Bauunternehmen die übriggebliebenen Reste des Camps platt; Francois Hollande hat für diese Woche die Räumung des Camps angesagt, gestern Montag begann die Polizei, die Kontrollen um das Camp herum enger zu machen. Menschen ohne Papiere dürfen das Camp nicht verlassen. Sie sollen in den folgenden Tagen von Bussen in „centres d’aceuils“ deportiert werden, wo sie registriert werden und ihr Leben durch staatliche Institutionen noch schärfer reguliert wird. Eine Wahl haben sie nicht. Diese Massnahme bedeutet einen weiteren, tiefen Einschnitt in die Selbstbestimmung und die Mobilität von Migrant_innen, einen weiteren Schritt in Richtung absolute Kontrolle des Staates. Trotz der schlechten Lebensstandards im Camp ist Calais einer der letzten Orte in Frankreich, von wo aus Migrant_innen selbstbestimmt Versuche starten konnten, die Grenze zu überqueren und wo sich das Leben den Kontrollen durch die Schergen des Staates einigermassen entziehen konnte. Damit wird wohl bald Schluss sein.
Am 24. Oktober 2016 haben wir in Bern und Luzern in einer koordinierten Aktion mehrere Akteur_innen der aktuellen Entwicklungen angegriffen. Die Ziele der Angriffe sind allesamt Tochterfirmen des multinationalen Bauunternehmens VINCI. VINCI war bereits zu Beginn des Jahres Hauptbeteiligte an der Räumung der südlichen Hälfte des Camps in Calais. Nun hat die Firma den Auftrag bekommen, die Mauer zu bauen und führt diesen aus. Ob die Firma an der Räumung die nun beginnt, beteiligt ist, ist noch nicht klar, es ist jedoch davon auszugehen. Firmen wie VINCI machen sich zu tragenden Stützen des voranschreitenden Ausbaus der staatlichen Kontrolle. Neben der Räumung des Camps von Calais, will VINCI auf dem Gebiet der „Zone a defendre“ (ZAD) in Notre-Dames-des-Landes einen Flughafen bauen und bedroht damit ein selbstbestimmtes Projekt. Zu den Zuständen im ZAD haben wir unten noch einen Link angefügt.
Mit unseren Angriffen wollen wir der Firma VINCI direkten Schaden zufügen, einerseits durch die Angriffe selbst und andererseits indem wir die Rolle der Firma in den genannten Prozessen offenlegen. Auch sollen die Angriffe einen Beitrag dazu liefern, den Kampf gegen die Träger_innen der sich zuspitzenden Unterdrückung und Zerschlagung migrantischer und nicht-migrantischer, solidarischer Strukturen zu intensivieren. Das alleine reicht jedoch nicht aus. In der heutigen Welt, gezeichnet von Kriegen um Macht und Kapital, von Unterdrückung und Kontrolle, gilt es, auf allen Ebenen zu kämpfen. Erkämpfen wir gemeinsam selbstbestimmte und solidarische Freiräume, die den Kampf gegen Nationen, Grenzen, all ihre Institutionen und Verfechter_innen aufnehmen und weiterführen. Benennen und dekonstruieren wir unsere anerzogenen Muster dieser Gesellschaft, töten wir den/die Rassist_in, Sexist_in, Nationalist_in und Polizist_in in unserem Kopf.
Gemeinsam für eine andere Welt
Infos zur Geschichte und aktuellen Lage in Calais: https://calaismigrantsolidarity.wordpress.com/
Infos zur ZAD: zad.nadir.org