«Seht doch endlich folgendes ein: wenn die Gewalt heute abend begonnen hätte, wenn es auf der Erde niemals Ausbeutung noch Unterdrückung gegeben hätte, dann könnte die demonstrative Gewaltlosigkeit vielleicht den Streit besänftigen. Aber wenn das ganze System bis zu euren gewaltlosen Gedanken von einer tausendjährigen Unterdrückung bedingt ist, dann dient eure Passivität nur dazu, euch auf die Seite der Unterdrücker zu treiben.»
– Jean Paul Sartre, 1961
Wer hätte es denn übersehen können? Überall wird momentan über den „Brennpunkt“ Como-Chiasso berichtet. Nach der Schliessung der Balkanroute und den erfolgreichen Vertragsabschlüssen mit der Türkei für die Rücknahme aller dort registrierten Geflüchteten, hat das europäische Migrationsregime nun ein neues Nadelör für Geflüchtete produziert: die Schweizer Südgrenze. Da Italien für die meisten Geflüchteten keine Perspektive bietet, sind die Meisten „gewillt“, ihr Glück im Norden zu suchen. Doch das Schweizer Grenzregime nimmt seine natürlichen Aufgaben wahr und weist den grössten Teil der Geflüchteten ab oder schafft sie auf italienischen Boden aus. Dies führt dazu, dass sich Abgewiesene und Ausgeschaffte im italienischen Como wiederfinden und dort seit Mitte Juli – zusammen mit jenen, die es gerade erst erreicht haben – „campieren“, um ihr Glück bei der nächst besten Gelegenheit wieder zu versuchen. Dass sich nun das von der Schweiz mitproduzierte Elend direkt vor ihrer Pforte staut, macht medial und gesellschaftlich natürlich keine gute Falle. Der Polit-Zirkus ist also eröffnet: die Rechten verteidigen die restriktive Praxis des Grenzwachkorps und schreien nach Unterstützung des Militärs, da erstere, ihrer Meinung nach, zukünftig überfordert sein werden; die Linken kritisieren die „Massenabfertigung“ und pochen auf eine kulantere Praxis für unbegleitete minderjährige Geflüchtete und eine generell differenziertere Anhörung seitens der Behörden – da ihrer Ansicht nach viele Geflüchtete, die eigentlich Asyl beantragen wollen, übergangen und somit widerrechtlich aus dem Land geschafft würden. Die Einen kritisieren, die Anderen dementieren. Das ist Politik. Und doch sind sie alle aus demselben Holz geschnitzt: nämlich aus jenem, das das Konstrukt des Staates mit seinen Grenzen und Gesetzen verteidigt, dessen Fundament unter anderem darauf beruht, all jene, die nicht verwertbar sind, auszuschliessen und mit allen Mitteln vom gesellschaftlichen Reichtum fernzuhalten; nämlich aus jenem, das durch legitimierte Macht dazu beiträgt, diesen gesellschaftlichen Reichtum auf Kosten jener anzuhäufen, denen es nun das Passieren der Südgrenze verwehrt. Deshalb ist es nicht von Belang, wie es uns das Medienspektakel zu suggerieren versucht, ob das Grenzwachkorps nun zu restriktiv oder doch genügend differenziert handelt. Und was Ueli Maurer, der alte Militarist, zu der ganzen Geschichte meint, schon gar nicht. Denn die Aufgabe des Grenzwachkorps ist und bleibt die Kontrolle der Grenze, was automatisch zu einem Ausschluss führen muss – ob nun für minderjährig oder für senil. Deshalb existiert es.
Grenzgebiet und Dorfleben
Eine Massnahme des Staates, diesem noch überschaubaren Problem Abhilfe zu schaffen, ist die Umsetzung der schon lange geplanten Bundeslager. 16 an der Zahl sind es, die überall in der Schweiz errichtet werden sollen, um die Abwicklung der Asylverfahren effizienter, kostenbilliger und kontrollierter zu gestalten. Im tessiner Mendrisio-Rancate soll nun, als ganz konkrete Antwort auf das Como-Chiasso-Fiasko, ein Rückführungszentrum entstehen, das dazu dienen soll, all jene, die an der Grenze abgefangen wurden und nun auf ihre Ausschaffung warten müssen (da die Bürokratie zwischen der Schweiz und Italien hinterher zu hinken scheint) eingesperrt werden. Ein Vorhaben, dass sich nicht nur an der Schweizer Südgrenze konkretisiert, sondern auch in der Grenznähe zu Frankreich, Deutschland und Österreich umgesetzt werden soll. Gleichzeitig zu dieser Entwicklung der gesetzlichen Verschärfungen gegen Geflüchtete, schafft es die Reaktion in kleinen Gemeinden wie in Seelisberg im Kanton Uri, mittels eines Bürgerprotestes, das dort geplante Asyllager bis auf weiteres auf Eis zu legen. Dass den Wutbürgern seitens der Politik zwar vordergründig Unverständnis, aber dennoch Akzeptanz entgegen gebracht wird, erstaunt kaum; denn was der Wutbürger, getrieben von seinen xenophoben Ängsten, öffentlich rausposaunt (im Fall von Seelisberg mit rassistischen Imitationen und Äusserungen am Infoabend zum geplanten Lager), untermauert der Staat strukturell mit seinen Gesetzen, seiner repressiven Praxis und seiner Verwaltung: diese Asylanten wollen wir hier nicht haben, lautet die Devise beider Kräfte. Die Einen bauen Lager, jagen die Betroffenen von der einen Institution zur Nächsten, traumatisieren durch permanente rassistische Kontrollen auf der Strasse und schaffen aus, die Anderen reproduzieren den gesellschaftlich geschürten Rassismus und hetzen gegen Geflüchtete.
Como: das neue Calais für Zivilbürger?
Und dann gibt es in dieser Gesellschaft noch jene, die es mit dem armen Refugee einfach nur gut meinen und ihm helfen wollen. Sie verteilen Schuhe und Kleider in den Camps, machen Foto-Reportagen, beraten sie rechtlich oder organisieren die Logistik zusammen mit den lokalen NGO’s (oder auch mal mit der NATO, je nach geopolitischem Standort). So gibt es hunderte von Volunteers, die von einem Krisenort zum anderen reisen, um ständig wieder von vorn die vom Staat verursachten Scherben zusammen zu kehren. Sie alle übernehmen genau die Aufgaben, die der Staat entweder nicht fähig, ist zu bewerkstelligen, oder die er nicht bewerkstelligen will, da er kein Interesse daran hat, ob die Menschen, die er so hartnäckig versucht draussen zu halten, vor seinen Pforten erfrieren, verhungern, verdursten oder sonstwie krepieren. Sollte es dann doch mal passieren – wie schon dutzende Male in Calais, Ventimiglia, Idomeni, Lesbos, Samos etc. –, dass Geflüchtete ihre täglich beraubte Würde zurückholen wollen und anfangen gewaltvoll zu revoltieren, sind diese neokolonialen Volunteers natürlich stets zur Stelle, um den Geflüchteten bei jeder Gelegenheit zu raten, sich doch friedlich und kooperativ zu verhalten, da es sonst nur noch mehr Repression hageln würde und sie so ihre Chancen auf was auch immer verschlechtern würden.
Gewaltvoll gegen das Grenzregime
Doch es braucht nicht noch mehr Schuhe, Kleider oder Kinderspielsachen. Es braucht nicht noch mehr weisse Ritter, die barmherzig den Ausgeschlossenen ihre Hand reichen, um sie dann wieder zu entziehen, sobald die Situation ausser Kontrolle zu geraten scheint und die Menschen beginnen, sich selbstorganisiert und gewaltsam zu holen, was ihnen zusteht. Was es braucht, sind Individuen, die direkt vor Ort, an der Grenze selbst, in den benachbarten Gemeinden und in den Städten die Situation analysieren und Abläufe, Strukturen und Personen ausmachen, die es direkt und gewaltvoll – als Ausdruck vollster Solidarität mit den Ausgeschlossenen – anzugreifen gilt. Nicht als symbolischer Akt, der moralistisch anprangert und eine künstliche Verbindung herzustellen versucht (z.B. im Fall von Como ein Transparent bei der italienischen Botschaft aufzuhängen o.Ä.), sondern als gezielte Sabotage, die effektiv in die Situation einzugreifen versucht und sie so verändert, dass die neue Ausgangslage für die Herrschenden nicht mehr so einfach zu kontrollieren ist, und daher wiederum mehr Möglichkeiten für subversive Intervention bietet. Man denke im Fall von Como an die Zugstrecke, an den durch eine funktionierende Infrastruktur gewährleisteten Informationsfluss der Bullen und des Grenzwachkorps, an die Notwendigkeit einer reibungslosen Logistik ihrerseits, an die anderen, nicht so sehr ausgelasteten Grenz-Strukturen entlang der Schweiz (von denen momentan Grenzwächter nach Chiasso geschickt werden), an eine generelle Erhöhung des Konflikts innerhalb der Städte, um die staatliche Kapazität ins Wanken zu bringen, sodass z.B. an der Südgrenze mehr möglich wird… Und dies sind nur einige Beispiele, die in direkter Verbindung und konkret gegen die staatliche Repression an der Südgrenze stehen. Denn wenn, und das ist nur eine Frage der Zeit, die Leute in Como die Schnauze voll haben und beginnen werden aufzustehen, sollten solche Fragen mindestens schon diskutiert worden sein, um den revoltierenden Ausgeschlossenen solidarisch beiseite zu stehen. Denn, gegen die Hypothesen der Sonntagszeitung, die eine Asylantragsflut prognoszitiert, da die Schweiz den Geflüchteten kein Transit gewährt, befeuern wir die Perspektive einer sozialen Flut des Aufbegehrens gegen die herrschenden Zustände.