– Seit einem Jahr ist die Koordination der Sans-Papiers in den Strassen Brüssels mit Demonstrationen und anderen Aktionen präsent. In welche Richtung will diese Koordination gehen und kannst du uns von einigen wichtigen Elementen dieses bewegten Jahres erzählen?
Langfristig gesehen ist unser Ziel die Regularisierung aller Sans-Papiers und kurzfristig möchten wir ein Treffen mit den Verantwortlichen des belgischen Staates bewirken. Es gibt zwei Teile in unserem Kampf: Erstens, die Sensibilisierung rund um die Frage der Migration und der Sans-Papiers, zweitens der Teil des Kampfes. Jeden Montag und Donnerstag versammlen wir uns vor dem Büro von Théo Francken (Einwanderungsminister) und vom Premierminister. Wir beteiligen uns auch an anderen Demonstrationen, denn unser Kampf ist mit dem Kampf der heutigen Gesellschaft verbunden.
In diesem Jahr gelang es, uns mit 7 verschiedenen Gruppen von Sans-Papiers zu koordinieren. Wir organisierten zwei grosse, nationale Demonstrationen, namentlich die am 3. Mai und die am 25. Oktober. Wir wollen die Frage in seiner Gesamtheit angehen, in Richtung eines europäischen Kampfes, denn die Gesetze, die die Immigration betreffen, sind auf einem europäischen Niveau gemacht. Deshalb haben wir uns mit verschiedene Kollektiven in Europa getroffen (Kollektive aus Paris, Italien und Deutschland). Wir fassen uns in der „internationalen Koalition der Sans-Papiers“ zusammen.
– Im September war der parc Maximilien ohne Zweifel der lebendigste von ganz Brüssel. In den Quartieren aber auch in den Medien sprach man viel darüber. Die Medien zögerten nicht, die Geschichte dieses Parks zu verunstalten. Kannst du uns erzählen wie sich die Koordination der Sans-Papiers während dem Ende dieses Sommers organisierte?
Unser Auftreten verfolgte zwei Ziele. Wir wollten uns mit den Flüchtlingen solidarisieren und wir wollten die Migrationspolitik, aber auch die Verantwortung des Staates, der die Flüchtlinge in den Strassen lässt, denunzieren.
Die Ersten, die die Flüchlinge aufnahmen, das waren die Sans-Papiers. Es gab auch eine Bürgerplattform, die sich vormierte, eine nicht politisierte Bewegung, die während einer spezifischen Periode, besonders bis zur Demo vom 27., Wohltätigkeit spenden wollte. Danach entschied sich diese Plattform in die vom Staat gegebenen Häuser zu ziehen. Die Sans-Papiers, die einen poltischen Ansatz und eine politische Vision hatten, trafen die Entscheidung, auf dem Platz zu bleiben, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu bekommen und Druck auf die Verantwortlichen des Staats auszuüben.
Den Park belebten wir auf verschiedenen Ebenen. Wir organisierten Diskussionen, Musikabende, Versammlungen, Filme, Debatten, eine Radiosendung namens „voix sans frontière“ („Stimme ohne Grenzen“) als Ort der Kommunikation und Diskussion unter den Flüchtlingen und den Bürgern, die kamen und infolge der Medienberichterstattungen helfen wollten.
Für die Sans-Papiers war dies eine Möglichkeit zu erklären, was ein Sans-Papier ist und wer die Sans-Papiers sind. Wir kreierten den Spruch „die Flüchtlinge von heute sind die Sans-Papiers von morgen und die Sans-Papiers von heute sind die Flüchtlinge von gestern“. Wir haben Erfahrung und wissen, dass viele Nationalitäten den Status des Flüchtlings nicht bekommen werden, zum Beispiel die Pakistanis und Iraker. Es war für uns eine Möglichkeit, anzuprangern und Fragen aufzubringen: „Sans-Papiers, Flüchtlinge: gleiches Problem“. Die Sans-Papiers werden die Glocke ziehen, um die Teilung zwischen Flüchtlingen und Sans-Papiers anzuprangern.
Die Sans-Papiers treten seit 2013 im Park vor der Ausländerbehörde mit der Karawane der Migranten, die dort ein Camp machten, auf. Der Park ist für uns ein symbolischer Ort, es waren nicht nur die Probleme der Flüchtlinge, die die Sans-Papiers zum Park brachten, sondern auch ihre eigenen.
Anfangs waren wir zusammen mit Collect Activ‘ mit einem Linseneintopf vor Ort, um dies den Flüchtlingen zu geben. Dies ist der Anfang der Sans-Papiers in der Problematik der Flüchtlinge. Danach kam die Plattform mit den staatlichen Organisationen (Rotes Kreuz, SAMU social, Médecins du Monde), um die Situation ausschliesslich auf eine karitative Weise zu verwalten. Wir waren nicht einverstanden, da wir ein anderes Ziel hatten. Für uns ging es nicht um Wohltätigkeit sondern um eine politische Frage. Die Sans-Papiers berührten das Herz der Sache im Park: Sie machten klar, wer der Veratwortliche der Aufnahme ist und prangerten diese Poltik, welche Menschen leiden lässt, an. Die Staaten von allen europäischen Länder führen Krieg und die Bürger wählen für diese Regierungen.
Unsere Ansicht störte den Staat und die Polizei (die immer kamen, um uns auf den Wecker zu gehen), denn unser Ansatz ist sehr klar. Der Staat hatte Angst, dass eine Massenbewegung aus dem Park hervorkommt.
– Später habt ihr euch entschieden, ein Gebäude in Ixelle zu besetzen, das Haus der Migranten. Kannst du uns die Rolle dieses Gebäudes für den Kampf der Sans-Papiers erklären?
Wir wollten ein Gebäude besetzen, um einen gemeinsamen Kampf mit der Unterstützung von anderen Aktivisten mit Papieren zu organisieren, um eine Bewegung zu bilden, die die Frage der Sans-Papiers und der Migration in seiner Gesamtheit behandelt. Wir haben zwei Ziele: dass sich die Sans-Papiers um ihre Angelegenheit organisieren und zweitens, den Kampf mit der Unterstützung von anderen Strömungen mit Papieren zu organisieren.
Das Gebäude ist ein Ort der Solidarität. Es gibt zwei bewohnte Etagen: eine für die Sans-Papiers, die sich mit uns in der Bewegung der Sans-Papiers bewegen wollen und eine andere für die Flüchtlinge, die wir aufgenommen haben. Das Gebäude ist nicht für alle offen, es ist für diejenigen, die sich organisieren und bewegen wollen.
Das Gebäude ist auch ein Ort für soziale Aktivitäten, die das Bewusstsein geegenüber den Sans-Papiers oder anderen Fragen vor Ort mitbringen. Es ist auch ein Raum, um zu teilen und sich mit anderen Strömungen zu treffen, die gegen dieses System, das die Menschen unter den Sans-Papiers und anderen oder Sans-Papiers und Flüchtlingen teilen will, kämpfen.
– Gester kam es zu einer Demo, die von der Ausländerbehörde aus losging und zum Kommissariat von Schaerbeek führte, um die Freilassung von während einer Räumung verhafteten Personen, darunter 4 Sans-Papiers, zu fordern. Am Morgen wurde der Squat von 200 Bullen geräumt, am Nachmittag waren 200 solidarische Menschen vor dem Kommissariat. Es war nicht das erste Mal, dass sich ein Elan der Solidarität nach der Verhaftung von einem eurer Kameraden ausdrückte. Kannst du uns erzählen, was Solidarität für euch bedeutet?
Die Solidarität ist uns sehr wichtig. Man ernährt sich von ihr und sicherlich schaffen wir diese Solidarität unter uns. Wir leben in Squats und kämpfen gegen Verhaftungen. Gestern gab es eine Demo im Rahmen der Solidarität mit den verhafteten Sans-Papiers und den Kameraden mit Papieren. Wir organisiseren Demonstrationen gegen die geschlossenen Zentren und die Einsperrung von Sans-Papiers. Die Solidarität ist ein wichtiger Punkt für uns, wir sehen das nach jeder Befreiung, wie gestern, als wir die Befreiung von vier Sans-Papiers erreichten. Gestern waren wir solidarisch mit den Sans-Papiers, die aus ihren Wohnungen verwiesen wurden, sie, wie viele andere unter uns, leben heute in einem Squat. Wir haben nicht das Recht zu arbeiten, daher können wir die Miete nicht zahlen. Gestern versuchten wir auch, die Solidarität zwischen den Sans-Papiers und auch zwischen den Sans-Papiers und den anderen zu zeigen.
– Uns gegenüber steht ein Staat, der sich an allen gesellschaftlichen Fronten in repressiver Offensive befindet. Uns gegenüber haben wir eine Militarisierung der Grenzen und ein terrorisierendes Klima gegen die Migranten und andere Unterdrückte. Im Mittelmeer haben wir ein Massengrab und der belgische Staat hat eine Zunhame der Kapazitäten in den geschlossenen Zentren angekündigt. Wie können wir entschlossen bleiben und und uns nicht entmutigen lassen angesichts dieser vernichtenden und mörderischen Offensive?
Uns gegenüber gibt es Staaten, die die Migrationspolitik auf eine repressive Art leiten, um die Repression auf die Gesellschaft auszuüben und um die Trennung zwischen den Thematiken zu vereinfachen und die Konkurrenz zwischen den Menschen zu nähren, zum Beispiel: Flüchtlinge gegen Sans-Papiers, Sans-Papiers gegen Arbeiter. Das Problem all dessen ist eine Gesellschaft, die auf einer kapitalistischen Politik gründet. Die an die Sans-Papiers gebundenen Fragen sind welche mit politischen und wirtschaftlichen Interessen. Frontex, zum Beispiel, hat ein wirtschaftliches Interesse: Millionen Euros um Migranten zu blockieren (und zu töten) und um ihre Waffen und andere Geschäfte, die man nicht kennt, zu fördern. Es gibt auch wirtschaftliche Interessen bei den Abschiebungen, eine einzige Abschiebung kostet rund 28 000 Euros und für kollektive Abschiebungen werden Armeeflugzeuge gemietet.
Die Bewegung der Sans-Papiers haben heute ihre kämpferischen Ansprüche entwickelt: Wir beanspruchen Papiere, um gleichgestellt zu sein und um weiter zu gehen, fordern wir die Schliessung der geschlossenen Zentren und die Öffnung der Grenzen. In diesen Fragen kämpfen wir teilweise auch mit anderen Akteuren der Gesellschaft zusammen, beispielsweise mit denen, die gegen die Einsperrung oder die geschlossenen Zentren kämpfen. Dies ist ein gemeinsamer Punkt mit den Menschen, die gegen die geschlossenen Zentren und die Gefängnisse kämpfen.
Zum Schluss möchte ich sagen, dass die Sans-Papiers heute Teil der wirtschaftlichen Gesellschaft sind, wir zahlen Steuern und wir partizipieren in der sozialen Bewegung mit unseren Mitteln (zum Beispiel dem Radio, télé sans-papiers oder anderen Initiativen). Ich will sagen, dass wenn wir heute die Grenzen sehen, so sind sie für die Reichen und für die Reichtümer unserer Länder offen, wieso sind sie für die Armen geschlossen?
weitere Informationen und Neuigkeiten zum Kampf der Sans-Papiers in Brüssel findet ihr unter sanspapiers.be