Die wichtigsten Fragen zur Flüchtlingskrise

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EU und Türkei haben sich geeinigt. Worin besteht die neue Strategie? Und was bringt sie?

Türkei und EU im Geschäft: Der türkische Premier Ahmet Davutoglu (l.) und EU-Ratspräsident Donald Tusk (r.) an der Pressekonferenz gestern in Brüssel.

Welches sind die wichtigsten Punkte des Abkommens zwischen der Türkei und der EU, um die Zahl der nach Europa reisenden Flüchtlinge zu begrenzen?
Die EU bezahlt zunächst 3 Milliarden Euro an die Türkei. Das Geld soll verwendet werden, um die «sozioökonomische» Lage der in der Türkei lebenden Flüchtlinge zu verbessern. Ausserdem verspricht die EU Visaerleichterungen für türkische Staatsbürger sowie eine Intensivierung der EU-Beitrittsverhandlungen. Laut der «Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung» denken die europäischen Staats- und Regierungschefs ferner darüber nach, jährlich ein Kontingent von Flüchtlingen aus der Türkei einreisen zu lassen; die deutsche Zeitung nennt eine Zahl «in der Grössenordnung von 400’000 Personen». Im Gegenzug will die Türkei ihre Grenzen besser sichern, insbesondere diejenige zu Griechenland. Ausserdem sollen Schlepperbanden intensiver bekämpft werden. Es wird auch angestrebt, dass die Türkei ab Juni 2016 ein Rücknahmeabkommen umsetzt, das es der EU erlauben würde, nachweislich über die Türkei eingereiste illegale Migranten zurückzuschaffen.

Lässt sich die Ägäis überhaupt abriegeln?
Die zerklüftete, rund tausend Kilometer lange Ägäisküste mit all ihren Buchten und den zahlreichen in Küstennähe gelegenen griechischen Inseln lässt sich mit Sicherheit nicht vollständig kontrollieren. Dennoch wäre die Türkei wahrscheinlich sehr wohl in der Lage, die Zahl der Flüchtlinge in die EU zu senken – nämlich dann, wenn Migranten bereits an Land an ihrer Weiterreise gehindert und zusätzlich die Grenze zwischen der Türkei und Syrien besser kontrolliert oder geschlossen würde.

Falls die Flucht über die Ägäis schwieriger wird – gibt es Ausweichrouten?
Die Erfahrung zeigt, dass Schlepper sehr kreativ sind und in kurzer Zeit neue Routen zu erschliessen versuchen. Eine denkbare Ausweichroute wäre etwa diejenige über das Schwarze Meer nach Bulgarien oder Rumänien und dann weiter nach Mitteleuropa. Sie ist aber länger und gefährlicher als die Balkanroute. Vor kurzem haben bulgarische Grenzwächter einen afghanischen Flüchtling erschossen.

Ist die EU vor dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan eingeknickt?
Ja. Erdogan kann nun die Rolle des migrationspolitischen Schleusenwärters, die ihm dank der geografischen Rolle seines Landes zukommt, konsequent ausnutzen. Insbesondere der von der Flüchtlingskrise stark betroffenen deutschen Regierung bleibt aus pragmatischen Gründen nicht viel anderes übrig, als dem zunehmend autoritär agierenden Erdogan entgegenzukommen. Durch die Flüchtlingskrise werden die Lage der Menschenrechte in der Türkei sowie der neu entflammte Krieg der türkischen Regierung gegen die kurdische PKK aus europäischer Sicht in den Hintergrund rücken. Als ob Erdogan seine Unbekümmertheit gegenüber den sogenannten europäischen Werten demonstrieren wollte, wurden kurz vor dem Flüchtlingsgipfel zwischen der Türkei und der EU zwei Journalisten des linksliberalen türkischen Blattes «Cumhuriyet» wegen Verrat und Spionage verhaftet. Sie hatten Dokumente publiziert, die darauf hindeuten, dass der türkische Geheimdienst Waffen an islamistische Extremisten in Syrien geliefert hat.

Ist die Haltung der EU verwerflich?
Nicht verwerflicher als etwa die jahrelange Vorzugsbehandlung des früheren libyschen Diktators Muammar al-Ghadhafi, dessen Regime ebenfalls dafür sorgte, dass möglichst wenige Flüchtlinge aus Afrika auf das europäische Festland übersetzten.

Lässt sich die EU von der Türkei erpressen?
Die EU und insbesondere Deutschland haben ein vitales Interesse daran, dass die Zahl der Flüchtlinge aus dem Nahen Osten schnell sinkt. Zumindest kurzfristig sitzt Erdogan deshalb am längeren Hebel. Allerdings hat auch er ein grosses ökonomisches Interesse daran, die Beziehungen zur Europäischen Union zu normalisieren, zumal sich die Spannungen zum wichtigen Handelspartner Russland nach dem Abschuss eines russischen Kampfjets dramatisch verschlechtert haben.

Wie hat die türkische Öffentlichkeit den Pakt zwischen der EU und Erdogan aufgenommen?
Laut dem TA-Korrespondenten Mike Szymanski bezeichnen regierungsnahe Zeitungen das Abkommen als Triumph für die Türkei. Bis spätestens 2020 werde die EU gezwungen sein, der Türkei die Vollmitgliedschaft «auf dem Silbertablett» zu präsentieren.

Was verändert sich nun für die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten, die sich bereits in der Türkei aufhalten?
Von den 2,2 Millionen Flüchtlingen in der Türkei befinden sich rund 300’000 in Flüchtlingslagern. Die anderen versuchen, sich sonst wie durchzuschlagen, viele arbeiten illegal. Szymanski zufolge sind die Zustände in den Lagern, verglichen mit denjenigen in arabischen Ländern wie Jordanien oder dem Jemen, relativ gut. Sollte die türkische Regierung aufgrund des Abkommens den Zugang zum Arbeitsmarkt öffnen, könnte der Anreiz für die Flüchtlinge, nach Europa weiterzuziehen, durchaus nachlassen. Allerdings werden jene Flüchtlinge, die während der letzten Monate nach Deutschland, Österreich oder Schweden gelangt sind, alles daran setzen, in der Türkei verbliebene Familienangehörige nachzuholen.

(…)

Ist die Flüchtlingskrise jetzt zu Ende?
Nein, sie ist bestenfalls entschärft. Solange im Nahen Osten Krieg herrscht und das globale Reichtumsgefälle bestehen bleibt, wird der Migrationsdruck auf Europa anhalten. Ausserdem besteht der Pakt zwischen Türkei und EU vorwiegend aus Absichtserklärungen. Ob und wann sie konkret umgesetzt werden, bleibt abzuwarten. Gegenwärtig ist noch nicht einmal klar, woher genau die von der EU versprochenen 3 Milliarden Euro stammen sollen.