«Wir wollen, dass niemand mehr kommt»

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Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban will keine neuen Flüchtlinge aufnehmen. Ähnlich klingt es auch sonst im Osten. Von Quoten wollen die Regierungen jedenfalls nichts wissen.

Hat genug von Flüchtlingen: Ungarns Premier Viktor Orban. (19.05.2015)

Oft waren Menschen im heutigen Osten der EU selbst Migranten – aus wirtschaftlicher Not oder wegen politischer Verfolgung hinter dem Eisernen Vorhang. Doch wenn es heute um Quoten für die Aufnahme von Flüchtlingen geht, sagen ihre Regierungen einstimmig nein.

Der Anfang vom Ende des Kommunismus in Ostmitteleuropa begann mit dem Wort «Solidarität». Doch fast 35 Jahre nach dem historischen Streik auf der Danziger Leninwerft und mehr als ein Vierteljahrhundert nach der friedlichen Revolution von 1989 kommt dieses Wort den Regierungen in Riga und Budapest, Warschau und Bratislava nicht über die Lippen, wenn es um die Aufnahme der Menschen geht, die über das Mittelmeer nach Europa geflohen sind.

Gegen Brüssel
In ihrer Ablehnung von Quoten für Flüchtlinge bilden die östlichen EU-Staaten eine geschlossene Front gegen Vorschläge aus Brüssel oder gegen Forderungen etwa Italiens, das Land durch die Aufnahme von Migranten zu entlasten.

Dabei liegt der Anteil von Ausländern in diesen Staaten deutlich unter dem westeuropäischer Länder, muslimische Einwanderer gibt es nur in verschwindend geringer Zahl. Dennoch hat eine Studie der Friedrich Ebert-Stiftung schon vor Jahren in Ländern wie Polen oder Ungarn einen besonders hohen Anteil islam- und fremdenfeindlicher Meinungen festgestellt.

Der stellvertretende polnische Aussenminister Rafal Trzaskowski ist überzeugt, die Migranten selbst wollten gar nicht in den Osten, den ärmeren Teil der EU: «Sie wollen in die wohlhabenden Staaten. Und wenn sie erst mal im Schengen-Raum sind, hindert sie nichts, dorthin zu ziehen.»

Ähnlich sieht es der slowakische Aussenminister Miroslav Lajcak: «Wie wollen Sie Menschen im Rahmen einer Gemeinschaft mit der Freiheit des Personenverkehrs auf ein Land beschränken?»

«Die, die schon hier sind, sollen nachhause gehen»
Besonders unverblümt ist der rechtsnationale ungarische Ministerpräsident Viktor Orban. «Wir wollen, dass niemand mehr kommt, und die, die schon hier sind, nach Hause gehen», sagte er.

Orban hat in Ungarn eine Bürger-Befragungsaktion zur Flüchtlingspolitik gestartet mit Fragen wie: Soll die Regierung nicht anstelle der Flüchtlinge die ungarischen Familien mit Kindern unterstützen? Orban spricht pauschal von «Wirtschaftsmigranten».

Manchmal müssen gar die eigenen ethnischen Minderheiten herhalten, um zu erklären, es könnten nicht noch zusätzlich Flüchtlinge und Migranten integriert werden. So verweist Ungarn auf die Roma, die baltischen Staaten auf die russische Minderheit – ganz so als handle es sich um Fremde und nicht um die eigenen Staatsbürger.

Angst vor Islamisten schüren
In Tschechien werden Ängste vor Islamisten geschürt: «Nicht jeder Muslim ist ein Terrorist, aber die meisten Terroristen sind Muslime», sagte Präsident Milos Zeman einmal.

Der slowakische Innenminister Robert Kalinak in Bratislava meint zu Quoten: «Das wäre zugleich ein Sicherheitsrisiko wie auch wirtschaftlich sehr riskant.» Auch Polen will sich nicht an feste Quoten binden lassen und nur freiwillig Menschen aufnehmen.

Dabei ist Emigration gerade in Ländern wie Polen ein Riesenthema. Rund 2,5 Millionen vor allem junger Leute haben das Land seit dem EU-Beitritt verlassen und etwa auf den britischen Inseln Arbeit und eine bessere Zukunft gesucht. Die baltischen Staaten gehören durch Emigration zu den am schnellsten alternden in der EU.

Erst vor kurzem öffnete in der nordpolnischen Hafenstadt Gdingen (Gdynia) das Museum der Emigration, um an die grosse Auswanderungswelle im 19. Jahrhundert zu erinnern. Damals wurde Chicago zur polnischsten Stadt der USA.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verliessen Zehntausende ihre Heimat im Osten Europas – teils als Wirtschaftsflüchtlinge, teils als politische Emigranten: Nach dem Aufstand der Ungarn 1956, nach der blutigen Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und nach der Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981.

«Wir müssen Solidarität zeigen»
Viele von denen, die in den baltischen Staaten im vergangenen Vierteljahrhundert die Politik prägten, waren ehemalige Exilanten, etwa der estnische Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves, der selbst als Kind estnischer Flüchtlinge in Schweden geboren wurde.

«Wir müssen Solidarität zeigen», sagte er kürzlich. Er räumte aber ein, dass dies «nicht unbedingt eine weit verbreitete Ansicht» in seinem Heimatland sei.

An die eigene Exil-Erfahrung angesichts der Debatten um die Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer erinnerte vor wenigen Wochen auch die lettische Zeitung «Latvijas Avize» in einem Kommentar: «Viele davon haben es sehr ähnlich getan – sie sind in Fischerbooten über das Meer nach Schweden geflüchtet. Haben wir nun das moralische Recht, die Notleidenden abzulehnen?»