Italien fordert EU-Sondergipfel nach erneutem Flüchtlingsdrama

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Vor der libyschen Küste hat sich offenbar das bislang schlimmste Flüchtlingsdrama im Mittelmeer ereignet: Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR kenterte ein Trawler mit rund 700 Menschen an Bord. Lediglich 28 Flüchtlinge konnten demnach gerettet werden.

Nach dem verheerenden Drama hat der italienische Regierungschef Matteo Renzi einen Krisengipfel der Europäischen Union gefordert. «Wir arbeiten daran, dass dieses Treffen zum Ende der Woche hin stattfinden kann», sagte Renzi vor Journalisten.

Das Schiff sei rund 110 Kilometer vor der Küste Libyens und in rund 200 Kilometern Entfernung von der italienischen Insel Lampedusa in Seenot geraten, sagte UNHCR-Sprecherin Carlotta Sami dem TV-Sender RAInews24. Die Geretteten hätten angegeben, dass mehr als 700 Menschen an Bord waren. Laut italienischer Küstenwache wurden bisher 24 Leichen geborgen.

Der UNHCR-Sprecherin zufolge gibt es wohl keine weiteren Überlebenden. Sollten sich die Zahlen bestätigen, wäre es das «schlimmste Massensterben, das jemals im Mittelmeer gesehen wurde», sagte Sami. Das Schiff mit den Flüchtlingen setzte laut UNHCR in der Nacht zum Sonntag einen Notruf ab. Die italienische Küstenwache wies daraufhin einen portugiesischen Frachter an, seine Route zu ändern. Bei der Ankunft am Unglücksort sichtete die Crew den sinkenden Trawler. Das eigentliche Drama ereignete sich offenbar, als die rund 700 Flüchtlinge beim Eintreffen des Frachters alle auf eine Seite des kenternden Schiffes eilten.

Die maltesische Marine sprach von rund 650 Flüchtlingen an Bord. Ein Sprecher erklärte, die Marine sei gegen Mitternacht alarmiert worden. «Gemeinsam mit Italien haben wir unsere Einsatzkräfte mobilisiert und helfen bei den Bergungsarbeiten.» Die italienische Küstenwache und Marine leiteten eine grossangelegte Suche ein, an der sich 17 ihrer Schiffe sowie mehrere Flugzeuge, Handelsschiffe und ein maltesisches Patrouillenboot beteiligten.

Mit dem neuen Unglück stieg die Zahl der umgekommenen Flüchtlinge auf über 1500 seit Jahresbeginn. Die Flucht über das Mittelmeer wird für immer mehr Menschen zur Todesfalle.

Krisensitzung der EU
Rund 20’000 Flüchtlinge haben nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) mit Sitz in Genf in diesem Jahr Italien erreicht. Das sind zwar weniger als in den ersten vier Monaten des vergangenen Jahres, die Zahl der Ertrunkenen hat sich aber verneunfacht. Nach der neuerlichen Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer hat die Europäische Union eine Krisensitzung einberufen. Die EU-Kommission äusserte sich in Brüssel «zutiefst betroffen» von dem Unglück mit Hunderten Toten und kündigte eine Dringlichkeitssitzung der Innen- und Aussenminister der EU-Länder an. Dabei solle es vor allem darum gehen, mit den Herkunfts- und Transitländern daran zu arbeiten, die Flüchtlinge von der gefährlichen Reise über das Mittelmeer abzuhalten.

Italiens Regierungschef Matteo Renzi sagte alle Termine ab und reiste nach Rom zurück, wo er für den späten Nachmittag ein Ministertreffen einberief. Frankreichs Präsident François Hollande telefonierte mit Renzi. «Wir haben darüber beraten, wie wir rasch handeln können», sagte Hollande laut dem französischen Sender «Canal Plus».

Italiens Innenminister Angelino Alfano berichtete EU-Migrationskommissar Dimitris Avramopoulos über die neue Flüchtlingstragödie im Mittelmeer. Der EU-Kommissar wird am Donnerstag in Rom zu Gesprächen erwartet.

Kritik von Papst Franziskus
Kritiker werfen der EU seit langem Tatenlosigkeit angesichts des Massensterbens im Mittelmeer vor. Zu diesen Kritikern zählt auch Papst Franziskus. Er rief die internationale Gemeinschaft am Sonntag auf, angesichts der sich häufenden Flüchtlingstragödien «entschieden und schnell» zu handeln. Mit Blick auf das Unglück sagte er beim Angelus-Gebet vor den Gläubigen auf dem Petersplatz, es seien «Männer und Frauen wie wir, Brüder auf der Suche nach einem besseren Leben». Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International sprach von einer «von Menschen gemachten Tragödie».

Italien hatte im vergangenen Herbst die Rettungsmission «Mare Nostrum» eingestellt, weil sich die EU-Partner nicht an der Finanzierung des Marineeinsatzes beteiligen wollten. Seitdem läuft unter Führung der EU-Grenzschutzagentur Frontex die deutlich kleinere Mission «Triton», die aber vorwiegend der Sicherung der EU-Aussengrenzen und nicht der Rettung der Flüchtlinge dient. Einige EU-Staaten hatten Italien vorgeworfen, mit «Mare Nostrum» die Flüchtlinge zu der gefährlichen Überfahrt ermutigt zu haben. Kritiker werfen der EU nun aber vor, mit «Triton» den Tod von Flüchtlingen in Kauf zu nehmen.