Am 19. September 2016 wurde das neue staatliche Flüchtlingslager bzw. Container-Dorf eröffnet, das direkt vom Roten Kreuz und der Caritas verwaltet werden soll. Am selben Tag versammelten sich ab Tageseinbruch, ca. 100 MigrantInnen im Bahnhofspark San Giovanni, um entschlossen Widerstand gegen die bevorstehende Räumung zu leisten. Gegen 9 Uhr traf Roberto Bernasconi, Diakon und Direktor der Caritas Como, ein, begleitet von einigen Vertretern vom Roten Kreuz und der Caritas und dutzende Journalisten. Alle wurden natürlich von der Polizei eskortiert.
Bernasconi versuchte zunächst, mithilfe der Übersetzer, die MigrantInnen zu überzeugen, sich ins neue Container-Dorf zu verlagern. Doch diese weigerten sich, was zu einem offensiverem Tonfall der Überzeugungstaktiken führte. Außerdem wurden die anwesenden solidarischen Leute, beschuldigt die MigrantInnen instrumentalisiert und zum Widerstand angestiftet zu haben.
Am ersten Tag registrierten sich nur gegen 100 Leute, am Abend verbat die Polizei die Essens- und Deckenverteilung am Bahnhof.
Erneut ist in Como die koloniale Rhetorik nicht zu übersehen, die die MigrantInnen als wild und kindisch darstellt, unfähig unabhängige Entscheidungen zu treffen. Diese Rhetorik wird nicht nur von den lokalen Medien hemmungslos reproduziert. Natürlich ist dieser Standpunkt simplistisch, doch er ist zugleich handlich, denn er erlaubt es, in einem Schlag auch die solidarischen Leute zu verunglimpfen und zu kriminalisieren, so werden die staatliche Flüchtlingslager als einzig akzeptable Lösung dargestellt.
Unter anhaltendem Regen wurde am 21. September, der Bahnhof von Polizisten in Vollmontur geräumt: Schlafdecken wurden den MigrantInnen aus den Händen gerissen und in den Müll geworfen. Nur dank der „Vermittlung“ einiger solidarischen Leute und Volontären eskalierte die Situation nicht und einige Decken konnten vor der blinden Wut der Normalisierung gerettet werden.
Am 22. September war die Räumung vom Park S.Giovanni beendet, die Polizei konnte angesichts der wenig übriggebliebenen Menschen (vermutlich u.a. aufgrund der schlechten klimatischen Bedingungen) ihre Arbeit vollenden.
Die MigrantInnen sind angesichts ihrer Position, d.h. angesichts des Bedürfnisses nach einem Schlafplatz, nach Nahrung und nach Hygiene, einer extremen Erpressung ausgeliefert. Dazu kommt die Tatsache, dass die Essensverteilung eingestellt wurde, weil „entweder kommst du ins Lager oder du verhungerst“, auch die Bedrohungen von Verwaltungsbeamte und die zunehmende Entmutigung haben viele dazu gebracht die Bedingungen des „Transit“ Lagers des Staates zu akzeptieren. Das ist keine freie Entscheidung, sondern eine überlebensnotwendige Entscheidung.
Mehrere Dutzend MigrantInnen sind jedoch auf die Erpressungen nicht eingegangen und entschieden sich das Lager zu verlassen, um zum x-ten mal zu versuchen die Kontrollen an der Schweizer Grenze zu umgehen oder die Stadt zu verlassen.
In der Nacht vom 22. auf den 23. September kam es zu ersten Probleme: Mitten in der Nacht wurde innerhalb der Container (welche bereits nach drei Tagen überfüllt waren) patrouilliert, Zweck dieser Patrouille war die Kontrolle der personalisierten Badges. Anscheinend hat ein Mädchen versucht, mit ihrem eigenen Badge, andere Personen hereinzulassen, somit konnten diese nicht identifiziert werden. Die Kontrolle wurde mit der Wegweisung von ca. zehn Leuten, unter denen sich auch Leute mit einem personifizierten Badge befanden, beendet. Zur Bestrafung, wurden sie gegen 3 und 4 Uhr Morgens aus dem Container-Dorf, auf die Straße geworfen. Hier zeigt sich die spezifische Rolle der staatlichen Flüchtlingslager: Möglichst viele Leute sollen registriert und aus den Augen der Öffentlichkeit entfernt werden, indem die eingepfercht werden.
Aus unserer Sicht ist es nicht schwierig zu verstehen, dass Menschen die bereits das Leben in Flüchtlingslager kennen und über reichliche Erfahrungen in diesen verfügen, (sei es in den „Hotspots“ oder in den „Aufnahmestrukturen“) sich spontan weigern, sich dem Aufnahmesystem für Flüchtlinge zu unterordnen.
Vergessen wir nicht, dass vieler dieses Menschen ein besseres Leben innerhalb der Festung Europa, mitsamt ihren Mauern und Stacheldraht, suchen. Ziel dieser Menschen ist sicher nicht in einem Flüchtlingslager gefangen zu bleiben und durch das europäische Empfangssystem marginalisiert zu werden. Viele Fallen unter die Kategorie der irregulären Migration, was sie zu Zielscheiben vom Migrationsgeschäft macht und einer rücksichtslosen Ausbeutung ausliefert.
Wir haben uns entschlossen ihre Entscheidungen und ihre Kämpfe zu unterstützen. Wir erkennen uns in ihren Kämpfen wieder, da wir alle derselben Dynamik von Ausbeutung, Hierarchie, Unterordnung und Repression ausgeliefert sind.
Wir betrachten MigrantInnen nicht als homogene Masse die es zu verwalten gibt, sondern als Menschen mit denen wir ähnlichen Wege und Praktiken, wie auch dieselbe Wut gegenüber jeglicher Form der Diskriminierung teilen. Wir sehen die Unterschiede zwischen uns und den MigrantInnen als Stärke aus denen wir gegenseitig lernen können und nicht als Faktum um uns über sie zu stellen.
Denjenigen, welche behaupten realistisch zu sein und die neuen staatlichen Flüchtlingslager als einzig mögliche Lösung darstellen, entgegnen wir, dass diese „Notfallpolitik“ eine unrealistische Lösung des eigentlichen Problems ist und nur zur Verbreitung von mehr Mauern und Lager in ganz Europa führt.
Mittlerweile herrscht die „Normalisierung des Notfalls“. Die Verwaltung von Menschen kennzeichnet diesen Zustand und reduziert die MigrantInnen auf bloße Objekte bzw. Waren. Menschen werden sortiert, katalogisiert und registriert, sie werden zur Passivität verdammt indem ihnen die Möglichkeit beraubt wird, selbstbestimmt über ihr eigenes Leben zu entscheiden.
Dadurch werden Bedingungen erschaffen, die es ermöglichen einigen ein Recht zum Überleben zuzusprechen, während andere von der Bildfläche verschwinden sollen.
Auch wenn wir wissen, dass nicht alle Menschen wortwörtlich gleich sind, lehnen wir die Einteilung in „gute“ und „schlechte“ MigrantInnen ab, die zwischen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge unterscheidet und denjenigen Schutz gewähren will die der Ausbeutung zugute kommen, während die „aufsässigen“ ausgeschafft werden sollen.
Interessiert die Gewalt an den Grenzen und die Frustration, der sich mehrere Leben ausgesetzt sehen, niemanden?
Es handelt sich um eine Gewalt, die denjenigen, die entschlossen sind Widerstand zu leisten und sowieso keine Stimme haben, die Nahrung verweigert . Es handelt sich um eine beschämende Flüchtlingspolitik die in unserer Gesellschaft einfach hingenommen wird.
Wer sich mit dem Widerstand solidarisiert wird sofort verunglimpft und weg gewiesen, was durch die eingehenden Beschwerden und Anzeigen der Polizeidirektion gegenüber einigen solidarischen Menschen deutlich wird.
Die Räumung des „illegalen“ Flüchtlingscamps hat das Problem nicht gelöst. Das staatliche Flüchtlingslager ist keine Lösung. Die Grenzen müssen geöffnet werden und jegliche Deportation gestoppt werden.
Einige solidarische Menschen aus dem Infopoint.