Archiv für den Monat: April 2018

Nice, Frankreich: Ausbruch nach traditioneller Art

übersetzt von sans attendre

Nach einer alten Praxis der Präfektur, erfahren wir von dieser netten Geschichte erst mit grosser Verspätung und weil jemand dafür gefasst wurde. Aber dennoch; am 23. April schrieb ein lokales Blatt (Var Matin), dass am 19. März fünf Sans-Papiers aus dem Internierungslager von Nice ausbrechen konnten.

Sie schlugen die Decke der Toilette ein, stiegen dann vom Dach mit der Hilfe eines Seils wieder herunter und kletterten anschliessend über das Absperrgitter der Anlge.

Einer von ihnen, der sich bereits weigerte in ein Flugzeug in Richtung Algerien einzusteigen, musste vor Gericht: Drei Minuten nach den ersten Vier nutzte dieser ebenfalls diesen Weg in die frische Luft, wurde allerdings gleich hinter dem Gitter von einer Polizeipatrouille gefasst. Am 23. April wurde er zu zwei Monaten Haft verurteilt. Die anderern Vier befinden sich noch immer im Freien.

Pogromnacht in Mytilini

gefunden auf barrikade

In der Nacht vom 22. April hat eine Gruppe aus 200 – 300 Faschist_innen eine Platzbesetzung von Bewohner_innen von Moria auf der griechischen Insel Lesbos angegriffen. Der Pogrom dauerte die ganze Nacht, es gab auf Seiten der Besetzenden dutzende Verletzte und alles endete mit der polizeilichen Räumung des Platzes.

Anfang letzter Woche hat sich eine Gruppe Bewohner_innen von Moria aus dem überfüllten staatlichen Camp in den Olivenhainen von Moria auf den zentralen Platz von Mytilini, dem Sappho Square, begeben. Die Besetzenden haben sich dort eingerichtet und hielten einen Teil des Platzes Tag und Nacht bewohnt. Die Gründe für den Protest sind vielfältig: In diesen Tagen stirbt ein Freund von ihnen. Sie werfen den Organisationen vor, ihn nicht genügend medizinisch versorgt zu haben. Ausserdem wehren sie sich gegen die Campstrukturen, welche auch mithilfe einiger NGOs aufrecht erhalten werden. Die Protestierenden haben insbesondere Eurorelief und MMS beschuldigt, welche beide in den gefängnisähnlichen Strukturen des Camps tätig sind. Es gab Parolen gegen die UNO genauso wie grundsätzliche Forderungen nach Bewegungsfreiheit.

Szenenwechsel: Jeden Sonntag findet in Mytilini eine Militärparade mit Flaggenzeremonie statt. Dabei wird vom Militär und Nationalist_innen die griechische Flagge auf der Stadthalle eingeholt. Diesen Sonntag sind aus ganz Griechenland Faschist_innen angereist. Nach der Zeremonie haben sie sich auf den Weg zum Sappho Square gemacht. Die Polizei ist zu diesem Zeitpunkt bereits präsent und bildet eine Reihe zwischen den Menschen auf dem Platz und den Faschist_innen. Ca. um 21 Uhr kommt es zu ersten Angriffen: Aus den Reihen der Faschist_innen fliegen zwei Fackeln und einige Steine auf die Menschen. Diese sind sehr überzeugt, den Platz nicht zu verlassen und haben bereits während der Parade begonnen, sich auf die Angriffe vorzubereiten. Sie bilden einen Kreis, in der Mitte sind die Frauen, Kinder und Alten. Rundherum stehen alle anderen, auch einige dutzend griechische und internationale Unterstützer_innen. Die Leute beginnen damit, ein Zelt aus Decken zu bilden, um sich vor den Wurfobjekten zu schützen.

Bis kurz vor 23 Uhr kehrt etwas Ruhe ein. Die Gruppe Faschist_innen scheint sich zu beruhigen und weniger zu werden, es gibt Verhandlungen der Polizei mit beiden Seiten. Die Leute auf dem Platz wollen bleiben, die Faschist_innen machen klar, dass sie sie vertreiben wollen. Es gibt Meldungen aus dem ca. 1 Stunde Fussmarsch entfernten Lager Moria, dass sich viele Menschen aufmachen, um Unterstützung zu leisten. Die Gruppe wird von der Polizei aufgehalten und ins Camp zurück getrieben. Kurz darauf kommt es zu neuen Angriffswellen: Wieder fliegen Gegenstände in Richtung der Menschen auf dem Platz. Diesmal auch Böller, Mülltonnen werden angezündet um die Polizeireihen zu durchbrechen. Die Angriffe verlagern sich auf die Promenade. Zeitweise kommt es zu kleinen Schlägereien, als es Faschist_innen gelingt, neben der Polizeireihe durchzubrechen.

In der ganzen Nacht gibt es viele Verletze, hauptsächlich durch Steine, Flaschen und Böller. Viele Bewusstlose werden weggetragen, nachdem sie am Kopf von Steinen getroffen werden. Es gibt offene Wunden sowie Augen- und Ohrenverletzungen. In nahegelegenen Räumlichkeiten errichten solidarische Menschen eine Krankenstation, in welcher Verletzungen notdürftig behandelt werden. Aufgrund der Ausschreitungen dauert es lange, bis die ersten Krankenwagen eintreffen. Dank der starken Solidaritätsstrukturen auf der Insel sind glücklicherweise schnell einige Ärzt_innen vor Ort.
Kleine Gruppen Faschist_innen schaffen es zeitweise sehr Nahe an die temporäre Krankenstation, so dass die Verletzten notfallmässig von dort evakuiert und auf andere Orte verteilt werden müssen.

Mittlerweile ist der faschistische Mob auf mehrere hundert Menschen angewachsen. Zwischen der Promenade und dem Platz stehen zwei Polizeibusse, die die Sicht versperren. Dahinter werfen die Faschist_innen immer wieder Gegenstände auf die Menschen, die noch immer auf dem Platz ausharren. Obwohl es viele Verletzte gibt und immer wieder einzelne Menschen zurückschlagen wollen, achten die Leute auf dem Platz peinlich genau darauf, dass nichts zurückgeworfen und die Faschist_innen nicht provoziert werden. Angesichts der grossen Gefahr und der ausweglosen Situation bleiben die Menschen auf dem Platz erstaunlich ruhig. Stoisch nehmen sie die Angriffe hin und versuchen, die Nacht auszusitzen. Bloss nicht zurück nach Moria! Aber wohin sonst?
Im Zentrum des Kreises ist die Situation besonders absurd. Unter dem Deckenzelt harren die verbleibenden Frauen, Kinder und Alten aus. Sie sehen nicht, was um sie herum geschieht. Kinder schreien, während die Faschist_innen versuchen, genau in die Mitte des Kreises zu treffen. Immer wieder fallen zwischen den Decken, die einen guten Schutz gegen die Steine bieten, Böller nach unten und explodieren zwischen den Menschen. Wiederholt ziehen Tränengasschwaden vorbei und bleiben unter den Decken hängen.

Einzelne Gruppen Faschist_innen versuchen von allen Seiten näher an die protestierenden Menschen zu gelangen. Von der Seite werden Steine auf Kopfhöhe geworfen. Es gibt immer wieder Angriffe, bei denen mehrere dutzend Fluggeschosse gleichzeitig über den Bus auf die Menschen fliegen. Darunter massive Steine, Molotowcocktails und grosse Böller. Die Faschist_innen nehmen Tote in Kauf.

Die Polizei hält über den grössten Teil der Nacht eine räumliche Trennung der zwei Gruppen aufrecht. Doch häufig steht nur eine Reihe Polizist dazwischen. Die Menschen auf dem Platz befinden sich weiterhin in Wurfdistanz. Zeitweise setzt die Polizei Tränengas, Pfefferspray und Schlagstöcke ein, um die Faschist_innen zurückzutreiben. Das gibt zwar kurzzeitig etwas Raum, jedoch wird kein Versuch unternommen, die Faschist_innen auf Distanz zu halten. Lange sind viel zu wenige Polizisten anwesend. Viele sind wohl noch damit beschäftigt, die zur Unterstützung losgelaufenen Menschen aus Moria aufzuhalten. Erst zum Schluss, bei der Räumung des Platzes, treffen neue Busse mit Polizisten ein.

In dieser Nacht zeigt sich das rassistische Gesicht der griechischen Polizei.

Um 4 Uhr treibt die Polizei die Faschist_innen noch einmal weit weg und hält sie auf Distanz. Gleichzeitig beginnt sie damit, die Menschen auf dem Platz zusammenzudrängen. Unterstützer_innen werden angegriffen und mit Pfefferspray vertrieben. Die verbleibenden ca. 130 Menschen werden von den Polizisten eng eingekesselt. Als klar wird, dass sie nicht freiwillig in die bereitgestellten Busse einsteigen werden, benutzt die Polizei Pfefferspray und physische Gewalt. Dabei kommt es zu letzten wüsten Szenen. Die Polizisten schlagen die Menschen, treten sie, schleifen und zerren sie an den Haaren über den Platz.

Nach den über 8 Stunden andauernden Angriffen durch die Faschist_innen, werden die Menschen festgenommen und mit dem Bus ins Gefängnis gefahren. Es ist noch unklar, ob und welche Anklagen erhoben werden. Daneben werden auch vier griechische Aktivist_innen von der Polizei abgeführt. Von den grösstenteils unvermummt agierenden Faschist_innen sind alle auf freiem Fuss.

Am nächsten Tag hören wir im Deutschlandfunk, dass es in Mytilini «Auseinandersetzungen zwischen Flüchtlingen und aufgebrachten Bürgern» gegeben habe.

Einige Antifaschist_innen, die in der Nacht auf dem Platz waren.

Gap, Frankreich: Karneval gegen die Grenzen

übersetzt von sans attendre

„Ein solidarischer Karneval gegen die Grenze“ wurde am Samstag, 21. April in Gap veranstaltet, um unter anderem gegen das rassistische Gesetz „Asile et immigration“ von Gérard Collomb zu demonstrieren. Knapp 300 Personen mit unter Masken verborgenen Gesichtern nahmen am Karneval teil, der vom parc de la Pépinière bis zur Präfektur des Hautes-Alpes führte.

Musik, Gesang, Parolen („solidarité avec les sans-Papiers“) und Verkleidungen waren mit von der Partie, sowie ein Panzer auf dem ein Richter mit einem Menschenfresser-Gesicht tronte… Zahlreiche Tags wurden auf die Mauern der Innenstadt sowie auf Schaufensterscheiben von Immobilienfirmen und Banken geschrieben.

Die grosse Mauer des Gefängnisses an der rue Grenette wurde ebenfalls angemalt, was einem Wärter gar nicht gefiel und tatsächlich Streit suchte, aber die Schläge selbst einsteckte.

Der Umzug dauerte bis gegen 20 Uhr. Es kam zu keinen Verhaftungen.

Madrid, Spanien: Bankautomat in Solidarität mit Lisa angezündet

gefunden und überarbeitet von contra info

Am 13. April sind zwei Jahre seit der Verhaftung der anarchistischen Gefährtin Lisa im Rahmen einer durch die Mossos d’Esquadra und der deutschen Polizei gemeinsam koordinierten Operation vergangen. Seitdem sass die Gefährtin in verschiedenen spanischen und deutschen Gefängnissen (wo sie sich auch momentan befindet). Vor Kurzem wurde sie von einem deutschen Gericht zu 7 Jahren Haft für eine Bankenteigung in Aachen verurteilt.

Am frühen Morgen des 11. April wurde in Vallekas (Madrid) in der Carlos Martín Álvarez Straße ein Bankautomat angezündet und aus Solidarität mit der Gefährtin Graffiti gesprüht.

Der Angriff steht für sich selbst: Banken sind einer der Hauptmotoren der Staatsgesellschaft und des Kapitalismus: Investitionen in Gefängnisse, Einrichtungen für Minderjährige und in die Waffenindustrie; die Verleihung von Krediten an Unternehmen und Staaten; Räumungen von und Spekulation mit Wohnraum, Mitschuld an den Gentrifizierungsprozessen, dies sind, neben vielen anderen Verantwortlichkeiten für das Räderwerk des Kapitalismus, deutliche Beweis dafür. Das gesamte Geflecht des Bankensystems ist immer einer der größten Feinde der Ausgebeuteten gewesen, und so auch für die Anarchist*innen, wie sich das in den Enteignungen und Sabotagen zeigt, die den anarchistischen Kampf im Laufe seiner Geschichte begleitet haben.

Gegenüber dem unterwürfigen linken Panorama (das das libertäre Umfeld erreicht), das sich unkritisch den kontrollierten, bürgerlichen und bürgernahen Protesten anschließt, die in voller Katharsis des bürgerlichen Nationalismus nach der Freiheit dreckiger Polizist*innen und Politiker*innen verlangt, während viele weitere in der Selbstgefälligkeit der Viktimisierung in Sozialen Netzwerken aufgehen, sind wir viele, die dem Angriff nicht entsagen.

Nutzen wir dieses kleine Zeichen der Solidarität als Ausdruck der Ermutigung und Zuneigung für Lisa und den Rest der anarchistischen Gefährt*innen, die in Italien, Griechenland, Frankreich, Deutschland, der Türkei, Chile, Mexiko, Russland und überall von der Repression getroffen werden.

Solidarität heisst Angriff!
Kraft für Lisa!
Lang lebe die Anarchie!

Anarchist*innen

Nantes, Frankreich: Lastwagen von Engie in Schutt und Asche

übersetzt von sans attendre

Direkte Aktion gegen die Metropole, die Abschieber und ihren Kapitalismus

In der Nacht vom Samstag, 14. April auf Sonntag habe ich in Nantes auf dem boulevard Pasteur im Quartier Zola ein Lastwagen von Engie Axima angezündet. Neben anderen Schädlichkeiten kollaboriert Engie Axima durch die Beteiligung an der Verwaltung von Internierungslagern bei der Inhaftierung und Abschiebung. So wie der Lastwagen stationiert war, muss dieses Unternehmen auch am Bau einer Luxuswohnung mitwirken, so wie es viele davon gibt in Nantes, wo sie wie Pilze aus dem Boden schiessen.

Fick die Metropole, ihren Kapitalismus und ihre Lakaien

Über den Kampf gegen das Bässlergut und aufständische Praktiken

erschienen in der Avalanche – anarchistische Korrespondenz Nr. 13

Dieser kleine Text, der vielleicht eine kleine Übersicht über die Kämpfe gegen das Bässlergut in Basel verschafft sowie ein paar Gedanken zu dieser spezifischen Art des Kämpfens formuliert, wurde von mir als Einzelperson geschrieben. Es sind meine Gedanken und meine Geschichte, die sich darin widerspiegeln. Der Text spricht, selbstverständlich, nicht für den gesamten Kampf. Andere würden wohl andere Dinge hervorheben und/oder anders gewichten.

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Es ist Freitagabend und einmal mehr versammeln sich auf einer Lichtung im Wald mehrere Personen und machen sich auf den Weg zu einem nahegelegenen Knast in Basel (eine kleine, reiche Stadt im Norden der kleinen, reichen Schweiz). Es ist der 11. September 2015 und die Leute rennen in Richtung Bässlergut, ein Knast am Rande der Stadt, aufgeteilt in 30 Plätze Abschiebehaft und 43 Plätze Strafvollzug. Beim Knast angekommen, werden Feuerwerke gezündet, ein Transparent mit der Aufschrift „Directeur Arschloch – Politik fasciste“ (ein Spruch, der bei einem der letzten Besuche von einem Gefangenen gerufen wurde) wird an den Zaun gehangen und Parolen gerufen. Die Gefangenen schreien ebenfalls zurück und schlagen mit voller Wucht gegen die verriegelten Fenster, so, wie sie das immer tun bei solchen wiederkehrenden solidarischen Besuchen. Bevor die kleine Meute nach wenigen Minuten wieder im Wald verschwindet, wird noch ein Kameramasten auf dem Parkplatz vor dem Gefängnis sabotiert. Im Anschluss an diesen Knastspaziergang wird dazu aufgerufen, sich dem geplanten Bau eines zweiten Gefängnisses direkt daneben zu widersetzen.

Die Geschichte spielt eine Woche vor einer angekündigten Demo gegen eine Militärübung ‚Conex15‘ in der Region Basel, bei der ein fiktives Szenario eines zusammenbrechenden Europas geprobt werden soll. „Wirtschaftskrise“, „Sabotagen auf und Plünderungen von Öl-, Gas- und Getreidevorräten“, „Flüchtlingsströme“ sind einige Stichworte aus diesem Szenario. Die Demo zieht wiederrum zum Bässslergut, bei dem es zu Zusammenstössen mit den Bullen kommt, auf dem weiteren Weg wird alles, was kaputt gehört und in kurzer Zeit kaputt gemacht werden kann, auch kaputt gemacht (nur oberflächlich und kurzfristig, wie sich wohl von selbst versteht, nach wenigen Tagen bis Wochen strahlt die Fassade des sozialen Friedens wieder).

Seither sind mehr als zwei Jahre vergangen. Seit dem Frühjahr 2017 wird neben dem Bässlergut an einem zweiten Knast gebaut. In diesem soll voraussichtlich der Strafvollzug mit 78 Haftplätzen untergebracht werden. Die zwei Arten der Inhaftierung (Abschiebehaft und Strafvollzug) werden dann wieder in voneinander getrennten Gebäuden untergebracht sein. In den nächsten Jahren soll dann auch das Empfangszentrum, das sich ebenfalls direkt daneben befindet, zu einem sogenannten Bundesasylzentrum umfunktioniert werden, in der die verschiedenen Verwaltungsstellen der Asylmaschine zentralisiert werden. Mehrere solcher Bundesasylzentren werden in den nächsten Jahren auf dem gesamten schweizer Territorium entstehen und werden auch an verschiedenen Orten bekämpft. In Zürich zum Beispiel, wo diese moderne Form der Lagerpolitik seit Anfang 2014 getestet wird, entfaltete sich ein radikaler und direkter Kampf dagegen. Und auch an anderen Orten kam es zu Aktionen, Sabotagen und Besetzungen, noch bevor die Lager überhaupt eröffnet wurden.

In diesen zwei Jahren haben also nicht nur die Herrschenden an ihrem repressiven Projekt gearbeitet. Neben dem Aufruf zum Widerstand gegen das Bässlergut II im Anschluss an den erwähnten Knastspaziergang, machte Anfang 2016 auch ein Flyer und Plakat unter dem Titel „Wenn die Feind_innen der Freiheit einen Gang zulegen…“ die Runde. Darin werden die Entwicklungen in Basel in einen grösseren Kontext gestellt, in dem sich ähnliche Lager und Knäste sowohl in Europa wie auch ausserhalb verbreiten werden und in dem dieses weitere Lager und dieser weitere Knast nur ein kleines, lokales Abbild eines viel breiter geführten Kriegs der herrschenden Ordnung darstellt. Aus dem Text: „…ohne weiteres wäre es möglich, weitere Beispiele des gegen Migrant_innen geführten Kriegs aufzuführen, der bereits tausenden Menschen den Tod brachte. Leider ist dieser im noch jungen 21. Jahrhundert geführte Krieg nicht der einzige, und so reihen sich die verschiedenen Überwachungsgesetze in den verschiedenen Ländern, die militärischen und polizeilichen Aufrüstungen, die Bauten von verschiedenen Knästen in ganz Europa und die sich in Knäste unter offenem Himmel verwandelnden Städte, die zunehmende Repression gegen Widerständige in die gleiche Offensive der Mächtigen ein. Ein Krieg, der so normal geworden ist, dass er nicht mehr erklärt werden muss und, die Maschen der Kontrollgesellschaft enger schnallend, auf allen Ebenen die bestehende Privilegienherrschaft sichern soll; alle auf ihren Plätzen, registriert und durchleuchtet, um schon beim kleinsten Anzeichen eines Kontrollverlusts oder eines Ausbruchs aus diesen Reihen genügend Mittel zur Verfügung zu haben, um möglichst schnell und effizient die Ordnung wieder herzustellen oder die störenden Elemente unschädlich zu machen.“

Ein Angriff auf einen lokalen Auswuchs der bestehenden Verhältnisse (in diesem konkreten Fall das Bässlergut) kann, unter anarchistischem Blickpunkt, nur als Angriff auf diese internationale Entwicklung betrachtet werden und sollte dies, wenn möglich, auch in den Kämpfen enthalten. Ein lokales Projekt der Mächtigen zu bekämpfen, ist schlicht ein Mittel, ein abstraktes, global verflochtenes, historisch gewachsenes und zu oft verwirrendes System an einer konkreten Manifestierung fest und sichtbar zu machen. Ein spezifischer Kampf ist vor allem ein Anfang.

Die Nächte fangen Feuer

Das Gefängnis Bässlergut wird erst seit dem Jahr 2000 als solches genutzt und steht seit dann auch in der Kritik und ist somit zu einem Referenzpunkt des lokalen Widerstands gegen die massive Abschiebepraxis, das europäische Grenzregime wie auch gegen das staatliche Bestrafen und Einsperren von Menschen im Allgemeinen geworden. An diesem Punkt muss angefügt werden, dass man nicht von einer verbreiteten feindseligen Stimmung in Basel gegen dieses Gefängnis oder gegen die Autorität im Allgemeinen reden kann und dass auch die Knäste in Basel oder der Schweiz in den letzten Jahren nicht von kleineren oder gar grösseren Revolten erschüttert wurden. Dieser Kampf kann also nicht als anarchistische Intervention in eine bestehende soziale Spannung verstanden werden. Eine solche Spannung ist hier ganz einfach nicht vorhanden, zumindest nicht sichtbar.

Mit der Vorgeschichte war es aber dennoch klar, dass der Erweiterungsbau nicht in voller Ruhe gebaut werden kann und auch nicht wird. Auch wenn die Kämpfe gegen dieses Gefängnis, sowie die verschiedenen Logiken, für die es sinnbildlich steht, so alt sind, wie der Knast selbst und auch wenn schon früh zum Widerstand gegen den Erweiterungsbau aufgerufen wurde, so haben sich die Kämpfe dagegen seit Baubeginn definitiv intensiviert, die Angriffe auf die Verantwortlichen gehäuft. Was mit kleineren Angriffen in Form gestochener Autoreifen bei am Bau beteiligter Firmen begann, entwickelte sich relativ rasch in zerstreute Brandanschläge auf die Autos dieser Firmen. Man konnte dies in Basel in den letzten Jahren wohl relativ selten sehen, dass an einem Wochenende gleich zwei Autos (ein Zivilauto der Basler Polizei und ein Auto von Swisscom, ein Telekommunikationsunternehmen) sowie ein Bohrkran (der Baufirma Implenia, welche die Bauleitung übernommen hat) an unterschiedlichen Orten Feuer fangen.

Die destruktiven Angriffe auf die verantwortlichen Akteure stellen sicherlich ein zentrales Element in diesem Kampf dar, doch war das letzte Jahr von diversen Formen des Widerstands geprägt. Mittels Plakaten „Gegen den Staat, seine Grenzen und Knäste“ wird dazu ermutigt, „sich mit Freunden und Gleichgesinnten zusammen zu tun, sich zu organisieren, sich Pläne auszuhecken und all denjenigen, die uns als passive Zuschauer gegenüber ihrem permanenten Machtausbau sehen wollen, das Spiel zu verderben und diese anzugreifen“ und „entgegen dem, was die Herrschenden uns glauben machen wollen, dass sie allmächtig und unantastbar seien“, auch bekräftigt, „dass die Revolte möglich ist, dass das Feuer der Freiheit lebt, solange es Individuen gibt, die sich voller Entschlossenheit und Freude gegen ihre eigene Unterdrückung stellen“. Eine Liste mit den Verantwortlichen und ihren Adressen wird im Internet (und eher wenig auf den Strassen) verbreitet. In der ganzen Stadt tauchen Sticker und Sprüche gegen das Bässlergut auf. An verschiedenen Veranstaltungen und Diskussionsrunden wird über dieses weitere Gefängnis sowie unsere Möglichkeiten des Widerstands diskutiert. Zu „Unehren“ des Nationalfeiertags werden erneut die Gefangenen gegrüsst und die Baustellenwand vollgesprayt. Im Mai ziehen 200 Menschen unter der Parole „Bässlergut einreissen – nicht erweitern“ in Richtung Baustelle, werden allerdings von den Bullen aufgehalten. Ein paar Tage vor der Demo brennt auf der Baustelle ein Bagger von Implenia ab, die Medien nehmen die Serie der Angriffe auf, die Stimmung ist spürbar angeheizt.

Die Angriffe sowie auch die mediale Stimmungsmache gehen weiter. Die unter Druck stehenden Behörden können keine Ergebnisse vorweisen. Eine Sonderkommission wird eingerichtet. Die Frage ist nicht mehr, ob, sondern wann und wo sie zuschlagen. Am 5. Oktober 2017 kommt es dann in den Kantonen Basel-Stadt, Basel-Land sowie Zürich zu sechs Hausdurchsuchungen, teilweise werden Computer, Handys und Kleidungsstücke beschlagnahmt, die Beschuldigten auf dem Posten befragt und, nachdem die DNA abgenommen wurde, auch wieder entlassen. (In der Schweiz ist das Sammeln von DNA-Spuren sowohl bei Tatorten wie auch bei beschuldigten Personen allgegenwärtig. Schon bei kleineren Verbrechen wie zum Beispiel Ladendiebstahl kann es zur Entnahme kommen. Bei Delikten, die im Zusammenhang mit subversiven Taten stehen, wird sie definitiv genommen. Bei einer Verweigerung der Entnahme sind die Behörden berechtigt, ‚verhältnismässige‘ Gewalt anzuwenden. Die Repressionsbehörden sind stets darum bemüht, die Datenbank bei allem Scheiss zu erweitern, gerade wenn es sich um potentiell Aufständische oder deren Taten handelt. Ein DNA-Hit (also die Übereinstimmung von Spuren am Tatort mit denen einer Person) genügt in den meisten Fällen, um verurteilt zu werden.) Die durchsuchten Personen werden wegen der Beteiligung an der erwähnten Demo im Mai des Landfriedensbruches angeklagt. Es ist klar, dass es bei dieser Anklage nicht wirklich um diese Demo geht, an der neben kleineren Sachbeschädigungen (Sprayereien) nichts weiteres passiert ist. Und so versuchen die Behörden, die Demo mit den diversen Bränden und Angriffen in Zusammenhang zu stellen. Im besten Fall hätten sie bei den Durchsuchungen etwas belastendes gefunden oder die abgenommenen DNA-Spuren werden ein bisschen Licht ins Dunkel bringen. Andernfalls ist es ein warnendes Signal und eine weitere Drohung an all diejenigen, die diesen Kampf beleben oder nach Möglichkeiten suchen, dazu beizutragen.
Am 30. November 2017 wird die anarchistische Bibliothek ‚Fermento‘ in Zürich durchsucht. „Im Schaufenster der Bibliothek werde zu Verbrechen und Vergehen gegen Firmen und Privatpersonen aufgerufen, was im Zusammenhang zu sehen sei mit jüngsten Brandanschlägen gegen den Bau des PJZ und des Gefängnisses „Bässlergut“ in Basel“, schreiben die ‚Anarchisten vom Fermento‘. Das Polizei- und Justizzentrum (PJZ) wird momentan in Zürich gebaut. Auch dieses Projekt wird seit Ankündigung verbal wie physisch angegriffen. Auch hier ist die Baufirma Implenia beteiligt. Auch in Zürich brannten im letzten Jahr diverse Bagger oder Fahrzeuge dieses Unternehmens.

Aufständische Praktiken

Ein solcher Kampf, der nicht nur diese eine Manifestierung der Macht angreifen und verhindern will, sondern zum selbst-organisierten Kampf mit den Mitteln der unmittelbaren praktischen Kritik jenseits der Repräsentation und Delegation einlädt und diesen zu Stärken sucht, kann nicht von der Stimme oder der Kraft einer Organisation oder was auch immer abhängen. Ein solcher Kampf, der über einen spezifischen Ausgangspunkt zur Zerstörung der gesamten Ordnung aufruft, lebt von der Kreativität und der Initiative der verschiedenen informellen Gruppen oder Einzelpersonen, die ihren eigenen Wegen und Ideen folgen und den dezentralen Angriff dennoch auf ein gemeinsames Ziel lenken und sich darin ergänzen und koordinieren können. Wie weiter oben schon erwähnt, sind offensiv geführte Kämpfe, die sich auf ein konkretes Projekt der Herrschaft konzentrieren, ein Mittel, um Kritik an dieser sichtbar zu machen, sowie um Methoden, die diese Herrschaft ins Wanken bringen und zertrümmern könnten, vorzuschlagen und aufzuzeigen. Die Sichtbarkeit unserer Kämpfe ist sicherlich eine Stärke, zur gleichen Zeit aber auch eine Gefahr. In Basel konnte man das sehr deutlich beobachten. Im Jahr 2016 brannten diverse Fahrzeuge und Container in der Stadt und auch andere Mittel des direkten Angriffs wurden angewandt. Teilweise wurden Schreiben zu diesen Aktionen verfasst. In vielen Fällen aber liessen die unbekannt Gebliebenen das Feuer oder die Scherben für sich selber sprechen. Niemand konnte wirklich wissen, wer hier was und aus welchen Beweggründen angreift, dennoch haben diese Taten eine gewisse Stimmung in diese allzu ruhige, befriedete Stadt gebracht. Man kann über die Motivationen dahinter also nur spekulieren, was sich aber gezeigt hat, war, dass auch wenn die Medien von einer Serie von verschiedenen Brandstiftungen berichten mussten, nie ein Zusammenhang hergestellt werden konnte. Die Ermittlungsbehörden hatten keine Anhaltspunkte.

2017 brannten wieder verschiedene Fahrzeuge und auch andere Mittel des direkten Angriffs wurden angewandt. Viele davon stehen im Zusammenhang mit dem Kampf gegen das Bässlergut, wie das die trotzdem unbekannt Gebliebenen im Internet schrieben, und wie das sowieso klar war, ging es doch sehr häufig um die immer gleichen Firmen und die immer gleichen Mittel (Kreativität in den Formen des Angriffs scheint ganz generell nicht die grösste Stärke der anarchistischen Welt zu sein…). Der Zusammenhang ist hergestellt. Auch wenn die Ermittlungsbehörden bezüglich den Angriffen bisher im Dunkeln tappen, können sie diese mit einer öffentlichen Demo gegen den gleichen Knast in Verbindung bringen. Nächtliche Angriffe aufzuklären, ist bei einer gewissen Ausführung relativ schwierig. Eine öffentlich angekündigte Demo abzufotografieren und die Leute zu identifizieren hingegen ziemlich einfach. Dies soll keine Argumentation dafür sein, unsere Kämpfe in grösst möglicher Klandestinität zu führen und auch keine Argumenation, die sich in jedem Falle gegen Communiqués richtet. Diese Zeiten werden vielleicht irgendwann kommen. Solange wir aber die Möglichkeit haben, anarchistische Ideen zu propagieren und zum direkten, destruktiven Angriff aufzurufen oder Gedanken und Reflexionen zu diesen Kämpfen zu teilen, sei es via Mitteilungen über ausgeführte Aktionen oder in Form dieser internationalen Korrespondenz, sollten wir diese auch wahrnehmen. Vielmehr stellt sich die Frage, wie Sichtbarkeit mit Zerstreutheit, Klarheit mit Diffusität einhergehen können. Sichtbarkeit und Klarheit, sodass es allen Menschen klar ist, was hier aus welchen Gründen bekämpft wird. Zerstreutheit und Diffusität, weil der Widerstand kein Zentrum (weder in der Organisierung noch in den Zielen des Angriffs) kennen darf, sondern sich ausbreiten und verstreuen soll und muss, weil die Attacken von allen Seiten, mit allen Mitteln, von überall und gleichzeitig nirgendwo kommen sollten.

Kreise ziehen

In anderen Kontexten mit einer weiter verbreiteten Feindseligkeit gegenüber den Strukturen der Macht stellt sich diese Frage bezüglich der Gefahr von spezifischen Kämpfen vielleicht weniger. Es sollte auch klar sein, dass wir unsere Kämpfe nicht nach potentiellen Gefahren ausrichten können. Wenn wir uns dazu entscheiden, eine potentielle (oder auch tatsächliche) Gefahr für das Bestehende zu sein, dann gehen wir auch aktiv das Risiko ein, dass die Keule zurückschlägt. Dies heisst wiederrum aber nicht, dass wir nicht darum bemüht sein sollten, zumindest zu versuchen, die Richtung der Repressionskeule abzuschätzen, vorauszusehen, sie zu verwirren und ihr so möglichst auszuweichen. Die folgenden Überlegungen können unabhängig davon vielleicht dennoch als Anlass genommen werden, um über aufständische Theorien und Praxen zu reflektieren und diese weiterzuentwickeln. Bleiben wir beim Kampf gegen das Bässlergut in Basel. Die Brandanschläge trafen im letzten Jahr sehr häufig ein paar wenige Firmen, die am Bau beteiligt sind und wurden in den meisten Fällen über Communiquées im Internet auch in diesen Zusammenhang gestellt. Angriffe auf die Polizei, die Politik oder auch andere Institutionen und Firmen, die zwar nicht direkt am Bau beteiligt aber auf andere Weise für das Funktionieren des Kontroll-, Bestrafungs- und Abschiebeapparates unabdingbar sind oder sich am gesamten Komplex der Unterdrückung beteiligen, blieben selten. Kapazitäten sind beschränkt und so ist es schwierig, an allen Ecken, in denen wir die Mechanismen der Herrschaft ausmachen, mit unseren Gedanken und Taten präsent zu sein. Gleichzeitig könnte dies auch schnell dazu führen, erneut in das Loch der wirren Verzettelung abzudriften.

Spezifische Kämpfe werden aber genau im Gegensatz dazu geführt. In Basel wird in erster Linie das Bässlergut bekämpft und nicht die Mauer an der Grenze zwischen den USA und Mexico. Der Bau genau dieses Knastes steht im Mittelpunkt dieses Kampfes und so sollen auch diejenigen, die für den Bau genau dieses Knastes verantwortlich sind, im Mittelpunkt der Angriffe stehen. Um diesen Mittelpunkt reihen sich aber verschiedenste, miteinander verwobene Kreise. Das Bässlergut ist ein Gebäude mit Zellen, Eingesperrten, Wärter*innen und Zäunen, das von der Politik beschlossen, von einigen Unternehmen umgesetzt und dann von anderen Unternehmen oder Institutionen verwaltet, beliefert und bewacht wird. Es befindet sich aber in einem grösseren Kontext, es ist Teil eines sozialen Verhältnisses der Beherrschung und Unterwürfigkeit, der Teilnahme und Akzeptanz, das wiederrum von teilweise klar benennbaren Akteur*innen genährt, produziert und reproduziert wird. Es ist dieses soziale Verhältnis, das den Laden am Laufen hält und das schlussendlich untergraben und zerstört gehört.

Nicht alle sehen sich selbst oder ihre Bekannten der direkten Gefahr ausgesetzt, eingesperrt oder ausgeschafft zu werden, aber absolut niemand kann sich vollständig den Griffen der Macht entziehen, die alles und alle eingenommen und integriert hat (Justiz, Arbeit, Religion, Technologie und ihre unendlichen Möglichkeiten in der Zukunft, Stadt, Geld, Familie, Schule, Geschlecht, Eigentum, Nation, Medien, Konsum, Produktion, Medizin, Daten, Militarismus, Wissenschaft, Energieversorgung, Ressourcengewinung oder was auch immer – die Griffe der Macht sind überall, es gibt kein ausserhalb). Das Gefängnis spielt dabei sicherlich eine bedeutende Rolle. Doch auch wenn alle Knäste abgeschafft werden würden, dann nur, weil die Justiz effektiverere und sozial noch verträglicherere Formen der Drohung und der Bestrafung gefunden hätte. Dass wir alle in dieser eintönigen, durchstrukturierten, vorgegebenen Gesellschaft leben müssen, die uns alle in den gleichen Gesetzen, den gleichen Werten, den gleichen Fiktionen, der gleichen verstörenden Realität, der gleichen Leere, der gleichen Gleichheit gefangen hält, daran würde sich genau gar nichts ändern. Die Gesellschaft würde uns alle weiterhin dazu verdammen, diesen einen Weg der Gesellschaft zu befolgen und unsere Träume ihren anzugleichen. Vielleicht ist es auch gerade das, wodurch sich Gesellschaft auszeichnet. Wenn wir also nicht für das Ende dieser Zivilisation, für die Zerstörung der Macht in all ihren Formen und für die Möglichkeit des selbstbestimmten Experimentierens, für die vollständige Eroberung des Lebens mit all seiner Pracht wie auch seinen Schattenseiten kämpfen, wofür dann? Etwa für ein bisschen weniger Rassimus, für mehr ‚Menschlichkeit‘, für die Zerstörung eines Knastes, für ein besseres Überleben, gegen die Plünderung eines geplünderten Planeten, gegen die Gier der Gierigsten, für die Selbst-Verwaltung des Bestehenden? Ja, viel Spass dann!

Aber wir waren bei unseren Kämpfen. Die Gratwanderung besteht darin, den Mittelpunkt klar im Visier zu haben und trotzdem fähig zu sein, die Kreise rundherum, die soziale Dynamik, als integralen Bestandteil und Bedingung dieses Mittelpunktes zu benennen und anzugreifen. Sowohl, um die Kritik auszuweiten als auch, um die unterschiedlichsten Menschen zum Kämpfen anzuregen. Einfaches Beispiel: Hätte es neben den Angriffen auf die Verantwortlichen dieses Baus auch vermehrt destruktive Akte gegen irgendwelche Überwachungskameras in der Stadt oder Unternehmen, die das Geschäft der Überwachung ankurbeln und daran verdienen, gegeben und wären diese Angriffe wiederrum in die Kritik einer ‚Knastgesellschaft‘ (grosses Wort) einbezogen worden, so würde der Kampf die Kritik auf ein breiteres Feld übertragen. Der Kampf wäre eher fähig, die soziale Dynamik der Unterdrückung, die sich in verschiedensten Formen an verschiedensten Orten wiederfindet, zu benennen und gleichzeitig zu einem Sturm auf ein konkretes, noch nicht bestehendes Gebäude, das diese Dynamik verkörpert, aufzurufen und zu ermutigen. Vielleicht würden Menschen, die einen riesen Groll auf all diese Überwachungskameras haben, auch verstehen, warum andere Menschen so energisch einen Knast bekämpfen. Vielleicht würden diese Menschen keinen Unterschied mehr aus diesen zwei Formen der Drohung und Kontrolle machen. Vielleicht, vielleicht… Die Kreise liessen sich beliebig weiterspinnen. Der Angriff auf das Bässlergut ist am Schluss eben doch auch ein Angriff auf diese verdammte Mauer zwischen den USA und Mexico, weil er ganz einfach ein Angriff auf die Welt der Herrschaft ist.

Nie wird es vorbei sein!

Anarchistische Kritik bezieht sich bereits seit Jahren auf das Bässlergut und wird dies wohl auch weiterhin tun. Egal in welche Richtungen sich diese Kämpfe entwickeln werden, kann schon heute gesagt werden, dass dieser Knast nicht nur die Geschichte der allumfassenden, auch wenn manchmal subtilen, Unterdrückung erzählt, sondern auch immer diejenige eines radikalen Widerstands dagegen.

Realistische Stimmen mögen behaupten, dieser Knast wird so oder so gebaut werden und es wäre gewiss schwierig bis unmöglich, diese Stimmen vom Gegenteil zu überzeugen. Doch kann dies nicht der Ausgangspunkt und schon gar nicht die Motivation für rebellische, anarchistische Herzen sein. Die widerständige Saat wurde und wird auch weiterhin verstreut, das Streben nach einer anderen, einer komplett anderen Welt sowie die Möglichkeit des direkten Angriffs haben hier wohl die meisten wahrgenommen. Was damit passiert, was andere Menschen damit machen, kann nicht in meinen noch in anderen Händen liegen. Die Frage, die uns zu betreffen hat, ist, wo und wie wir diese Samen der Rebellion streuen und wie wir sie kultivieren und pflegen können. Es ist niemals ausgeschlossen, dass die Ideen Verbreitung finden, dass sich Leute dazu entschliessen, nicht mehr zu gehorchen, nicht mehr zu warten und hier und jetzt damit beginnen, die Bedingungen ihres eigenen Lebens und ihrer Umgebung zu definieren und zu prägen. Wenn die Anarchie keine simple Meinung, kein Philosophieren über eine mögliche, bessere Zukunft, und noch weniger ein Programm, ein klar definiertes Ziel sein kann, dann ist sie die konstante Entdeckung und Prägung seines vielfältigen und chaotischen Selbst in Konfrontation mit allen hegemonialen Wahrheiten oder autoritären Dynamiken. Unter herrschaftsfreien Bedingungen wäre es uns allen einfacher möglich, uns selbst und unsere Mitwelt neu zu erkunden und nach unseren Vorstellungen zu gestalten und zu entwickeln. Unter dem Gewicht der bestehenden staatlich, kapitalistischen Bedingungen zu leben, ist aber nicht das Ende unserer lebens- und freiheitsliebenden Existenz oder der Anarchie.
Sie werden sich auch unter diesen widerlichen Voraussetzungen ihren Weg suchen.
Und sie werden ihren Weg finden. So oder so.

Es sollen sich alle herzlichst umarmt fühlen, die sich im Laufe dieser Kämpfe in den letzten Jahren dazu entschieden haben, das Weite zu suchen.

Januar 2018

Palazzo San Gervasio, Italien: Hungerstreik und Massenausbruch im CPR

übersetzt von hurriya

Der Kampf der im CPR von Palazzo San Gervasio inhaftierten Personen kennt keine Ruhepause. Über die lokalen Medien erfahren wir, dass am 09. April einige Gefangene einen Hungerstreik organisiert haben, um gegen die Haftbedingungen im staatlichen Lager zu protestieren.

In der Nacht gelang es dann 22 der 82 Gefangenen auszubrechen, indem sie über das Dach des Gebäudes kletterten. Drei der Ausbrecher wurden später von den Ordnungskräften wieder eingefangen.

Wir erinnern daran, dass am 25. April um 11 Uhr vor dem CPR eine Versammlung in Solidarität mit den Personen stattfinden wird, die sich von Lampedusa bis Palazzo San Gervasio im Kampf für die Freiheit befinden.

Wuppertal, Deutschland: Glasbruch und Farbe für Parteibüros von CDU, SPD und FDP

gefunden auf chronik

Wir haben in der Nacht vom 8. auf den 9. April die lokalen Parteibüros von der CDU, SPD und FDP mit Glasbruch und Farbe bedacht. SPD und CDU regieren im Bund und CDU und FDP in NRW.

Vor bald 25 Jahren wurde das Recht auf Asyl, welches als Lehre aus dem NS, bis dahin relativ gute Möglichkeiten für Geflüchte bot, faktisch abgeschafft. Drei Tage später am 29. Mai 1993 zündeten Nazis in Solingen ein Haus an und ermordeten fünf Menschen, weil sie Türk_innen waren. Die Tat war Teil einer langen Kette von Angriffen, Morden und Pogromen. Diese Aktionen fielen nicht vom Himmel. Sie sind in einem Zusammenhang mit rassistischer Hetze auch von Seiten der damals wie heute Herrschenden zu sehen.

Heute 25 Jahre später ist das gleiche Pack am Ruder was am Jahrestag von Solingen zwar Krokodilstränen weinen wird, aber die Politik des Ausschlusses, der Abschiebung, der Ausbeutung, des Krieges weiter fortführt! Geflüchtete werden interniert und ein Gesetz gegen Geflüchtete folgt dem Nächsten. Und wieder tobt der rassistische Mob auf der Straße, es werden Anschläge und brutale Übergriffe verübt und mit der AFD zieht eine faschistische Partei in den Bundestag. Die CDU spielt mit, hetzt was sie kann und Horst Seehofer hat jetzt ein Heimatministerium. Die SPD gibt sich wie immer gemäßigt und stimmt den widerlichen Gesetzen gegen die Geflüchtete zu. Die FDP entdeckt sich als Lucke AFD neu und steht in NRW mit der CDU für die Internierung von Geflüchteten.

Feige seid ihr!

Helge Lindh von der SPD spricht im Zusammenhang mit der Aktion gegen die Parteibüros von Feigheit und Gewalt. Lieber Helge, Gewalt ist es sich antirassistisch zu geben und dann Menschen den Familiennachzug zu verwehren. Feige ist es mit den Erdogan-Regime schmutzige Deals zu machen, aus Angst davor, dass die Geflüchteten nach Europa kommen, wie es die GroKo getan hat. Feige ist es für Rüstungsdeals zu sorgen mit denen dann unter anderem die Revolution in Rojava angegriffen wird. Gewalt sind eure Gesetze, die Arbeitslose und Geflüchtete unterdrücken. Gewalt ist eure brutale Polizei, die beim G-20 letztes Jahr zahllose Menschen schwer verletzt hat. Gewalt ist das was eure Soldat_innen in diversen Konflikten treiben.

Wir grüßen mit unserer Aktion natürlich auch die Kämpfer*innen in Efrin und Rojava. Haltet stand. SPD/CDU ihr mordet mit.

Greift Rassismus und die Rassist_innen an wie und wo ihr könnt!

Antagonistisch und so offensiv wie wir können. Für die soziale Revolution! Heraus zum Autonomen 1.Mai!

Avalanche Nr. 13 erschienen

gefunden auf avalanche

  • Schweiz: Über den Kampf gegen das Bässlergut und aufständische Praktiken
  • Deutschland: Wenn Betonwüsten intelligent werden. Smarte Kontrolle und die Technisierung der Stadt
  • Tunesien: Worauf warten wir? Tage und Nächte der Revolte gegen die Misere

Avalanche-DE-13 als PDF


Editorial

April 2018

Jedes Projekt, in das man sich einbringt, ist mit Erwartungen verbunden. Erwartungen für etwas, das noch nicht da ist, für etwas, das über die Summe der Komponenten hinausgeht. Ich würde sogar sagen, dass sie den Hauptteil davon ausmachen, was mich dazu motiviert meine Energie in langfristige Projekte zu stecken. Das klingt zwar einleuchtend, in der Praxis sieht es aber meist anders aus. In vielen Fällen werden wir durch andere Faktoren motiviert: die Routine der Gewohnheit, das Streben nach sozialer Anerkennung, der Wunsch eine Fertigkeit zu erlernen oder anzuwenden, die Bejahung der eignen Zugehörigkeit, die Neigung zu gegenseitiger Unterstützung, etc . Anstatt auf (Selbst-)Bestätigung spielen die Erwartungen, auf die ich anspiele, jedoch in Richtung einer Transformation. Wobei sie gleichzeitig beabsichtigt sind. Sich das Potential eines Projekts vorzustellen und Wege zu finden, um dieses Potential zu realisieren, ist etwas anderes, als auf positive Nebeneffekte zu hoffen oder einfach anzunehmen, dass Resultate notwendigerweise folgen werden. In der Avalanche wollten wir uns auf Projekte fokussieren, die aus einem Verständnis der sozialen Umwelt erwachsen und die eine Projektion unserer eigenen Verlangen in diesen Kontexten sind, um autonome Pfade zu entwickeln, die auf eine aufständische Intervention abzielen. Wenn man beginnt und voranschreitet auf diesem Pfad, wird mit Hypothesen experimentiert. Dabei werden Erwartungen erfüllt oder enttäuscht.

Dasselbe gilt für das Projekt Avalanche. Die internationale Korrespondenz, die in der Avalanche enthalten war, sollte zu verschiedenen Dynamiken beitragen: sie sollte unter Anarchisten über Grenzen hinaus stattfinden, um gemeinsame Referenzpunkte zu haben, um eine Diskussion zu schaffen, die die Perspektiven schärft und die Affinitäten vertieft, um Erfahrungen in einer weniger fragmentierten Weise zu übermitteln (kohärenter als Echos von Aktionen und Repression), damit sie eine geteilte Geschichte werden, von der man Inspiration ziehen kann, um andere Anarchisten zu motivieren, ein Projekt der direkten Aktion und der Selbstorganisation zu erproben, sowie um jene einzuladen, die keinen Hang dazu haben ihre Projekte zu kommunizieren, ihre Erfahrungen zu reflektieren und zu teilen. Niedergeschrieben scheinen diese Erfahrungen übermäßig ambitiös – sogar anmaßend, sicherlich für etwas das lediglich eine Publikation ist. Jedoch wären wir nicht zufrieden mit direkten, praktischen Resultaten, mit einem Katalog, den man abhacken könnte, sprich mit einem pragmatischen Ansatz.

Auch wenn das so ist, müssen wir evaluieren, zurückblicken, wo wir herkommen, um einen Ahnung zu bekommen, welche Richtung es einzuschlagen gilt. Und die Avalanche hatte ihre Verdienste. Jedoch werde ich hier keine Liste niederschreiben mit meinen Höhepunkten und Frustrationen mit diesem Projekt, jeder kann an seine eigenen denken und sie werden sich unterscheiden. Es gibt einen grundlegenden Faktor in diesem Projekt und das sind die Beiträge über laufende Kampfprojekte. Um es offen zu legen, es gibt wenige und damit meine ich nicht nur Beiträge, die eingehen, sondern auch Projekte. Besonders wenn ich autonome Kämpfe von Anarchisten betrachte, die darauf abzielen in ihrer sozialen Umgebung durch die direkte Aktion und Selbstorganisation zu intervenieren, sind diese in der letzten Zeit eine Seltenheit. Dieses Einschätzung – sofern sie geteilt wird – kann der Ausgangspunkt für eine Reflexion, Debatte und – möglicherweise – neue Projekte sein. Aber in der Zwischenzeit die Avalanche mit ihren Intentionen am Laufen zu halten, in so einem Kontext, erscheint uns als fehlgeleitete Anstrengung. Und deshalb wird diese die letzte Ausgabe der Avalanche sein.

In keiner Weise bedeutet das, dass die zuvor genannten Intentionen dieses Projekts irrelevant oder obsolet geworden sind. Trotz, oder genau aufgrund der Tatsache, dass immer mehr und mehr Menschen konstant durch Gerätschaften mit – digitalen – Anderen verbunden sind, ist ein substantieller Austausch oder eine Diskussion immer noch eine Ausnahme. Ein fortlaufender Dialog, der von Affinitäten ausgeht und diese stärkt, ist eine Dringlichkeit, wenn reduzierende Identitäten immer mehr und mehr aufgezwungen werden. Andere Korrespondenzprojekte werden diese Herausforderung aufnehmen. Auch Kampfprojekte werden wieder formuliert werden. Sie werden neu erfunden werden, da wir nicht verlockt sind den „Wiederholen“-Knopf zu drücken. Noch haben wir Angst davor zurück zum Anfang zu gehen und es wieder zu versuchen. Für jene, für die das Konformsein mit dieser Gesellschaft ein Alptraum ist, bleibt die Subversion eine Lebensnotwendigkeit.

Die Winde bekämpfend, die über den Ozean ankommen, sich nach den Bergen sehnend.

Neues aus der Rubrik „Fremdenrecht“…

übernommen von der Revolte Nr. 27 – anarchistische Zeitung aus Wien

…gibt es immer, jedes Jahr beginnt der ganze Zirkus von Neuem – quer durch die Parteien scheint es einen regelrechten Wettkampf zu geben, wer noch weitere Gemeinheiten aus den Hut zaubern und mehr Brutalität walten lassen kann. Auf vielen Ebenen wird versucht darauf zu reagieren – NGOs beziehen Stellung, die Opposition ebenso, Demos finden statt, etc. Am Ende des Tages werden schwammige Paragrafen von Schreibtischtäter*innen produziert, welche wohl besser klingen sollen und vor allem nicht so leicht (wieder) von den Höchstgerichten außer Kraft gesetzt werden. Wenn der Staat sich ja zu gewissen Rechten explizit verpflichtet, da kann es schon mal vorkommen, dass nicht alles durchgeht. Da gibt es zum Beispiel die Genfer Flüchtlingskonvention, die sagt wer Flüchtling ist. Und dann gibt es da noch das Asylgesetz, das stützt sich auf die Konvention und da sind noch ein paar eigene Sachen mitreingenommen, wie das in Österreich auszuschauen hat. Und dann gibt es da noch ein, zwei, drei andere Gesetze, die noch sagen, wie das alles auszusehen und zu passieren hat usw. Wenn man sich dann innerhalb des Rechtskonstruktes bewegt, erkennt man schnell, dass die “völkerrechtliche Verpflichtung” aufgrund der Genfer Flüchtlingskonvention, die der Staat eigentlich innehat, zum Gnadenakt pervertiert. Das Interesse des Staats liegt viel mehr darin möglichst viele Menschen schnell wieder loszuwerden – hinsichtlich der Fragestellung zu Migrationsbewegungen und auslösende Ursachen sind wie immer keine Konzepte sichtbar. Nicht dass man das erwarten würde. Nicht nur die in jüngster Vergangenheit gehäuft passierenden (Charter-)Abschiebungen zeigen die praktische Brutalität. Die Grausamkeiten und (rechts-)staatlichen Gewalttaten, die zur Zeit geschehen, stehen im Gesetz bereits festgeschrieben – die Willkür der (Asyl-)Behörden kommt da noch dazu. Die Fremdenrechtsnovellierungen sowie die rechtspolitischen Diskurse der letzten Jahrzehnte spitzen sich immer weiter zu. Die Basis ist jedoch immer schon die gleiche: Diese Gesetze machen Menschen zu Objekten und verfügen völlig willkürlich darüber.

Jetzt verhält es sich so, dass es in einem Asylverfahren u.a. mehrere „Beweise“ gibt, die herangezogen werden um abzuwägen, ob Asyl oder ein anderer Schutz erteilt wird. Auf der einen Seite steht die Aussage der betroffenen Person, sprich das sogenannte Interview ist das wichtigste „Beweisstück“. Auf der anderen Seite haben die Instanzen im Asylverfahren gewisse Werkzeuge, um diese Aussage zu überprüfen und demnach als glaubwürdig zu bewerten oder eben nicht. Beispiele für diese Glaubwürdigkeitsprüfung sind unter anderem Altersschätzungen, Länderberichte der (österreichischen) Staatendokumentation, Sprachanalysen, psychologische Gutachten, länderkundige Personen, etc. Die Leute, die über die Asylverfahren entscheiden, waren zumeist nie in den relevanten Ländern und ziehen eben diese Gutachten, Schätzungen, Berichte von Menschen, NGOs, regierungsnahen Stellen u.A. als Basis für die Entscheidung heran.

All diese Werkzeuge haben gemeinsam, dass sie eine Aussage treffen, wie die Lebensrealität der betroffenen Person und/oder ihres Herkunftslandes „wirklich“ ist – sprich diese Werkzeuge inklusive dem innehabenden „Wissen“ dafür zu nutzen, Aussagen zu treffen, woher die Person komme, wie alt sie sei, was „bei ihr“ abgehe und wie alles „dort“ funktioniere. Dass diese Wissens- und Forschungspraktiken selbst in einem Zusammenhang mit historischen und politischen Gewalt-, Macht- und Herrschaftsverhältnissen stehen, ist dabei kein Thema – warum auch, die Interessen des Staates stehen ja im Vordergrund. Trotzdem werden diese Aussagen als Beweis für oder gegen die “Glaubwürdigkeit” der betroffenen Person verwendet bzw. an Hand dessen festgestellt, ob die Person in dem betreffenden Land “sicher” ist bzw. eine Rückkehr dorthin zumutbar ist. Das “Wissen” der betroffenen Person, welche die eigentliche Expert*in für ihre Lebensrealität ist, wird dabei unterdrückt. Somit hält die vermeintliche “Wissenschaft” Einzug in das Asylverfahren – wer dann beherrscht, unterdrückt und benutzt, ist selbsterklärend und eben diese Gewalt des “Wissens” schlägt sich dann in der praktischen Brutalität von Abschiebungen wieder.

Ein Beispiel für dieses Phänomen ist die Entscheidungspraxis der Asylinstanzen in Hinblick auf Afghanistan, welche sich im letzten Jahr massiv verändert hat. Dem vorangegangen ist ein Abkommen zwischen der EU und Afghanistan von Oktober 2016, in dem sich Afghanistan dazu verpflichtet, afghanische Staatsangehörige, welchen kein internationaler Schutz zuerkannt wurde, zurückzunehmen. Dieses Abkommen trat im Frühjahr 2017 in Kraft und ermöglichte erstmals seit Jahren Abschiebungen von Österreich nach Afghanistan. Fast zeitgleich erschien ein “Gutachten” zu Afghanistan von Karl Mahringer, welcher erst kurz zuvor in die Sachverständigenliste eingetragen wurde und der einzige Sachverständige für die Länder Afghanistan, Irak und Syrien ist. Mahringer schlussfolgerte in diesem „Gutachten“, dass für abgeschobene ehemalige Asylsuchende in Kabul eine Neuansiedelung und Existenzgrundlage möglich ist. Er selbst ist ein Geschäftsmann, hat laut eigenen Angaben von 2009 bis 2014 in Afghanistan gelebt, reist jetzt immer noch nach Afghanistan und hat dort viele Kontakte. Seine Interessen und Connections seien dahingestellt, nicht unerwähnt bleiben sollten seine Tätigkeiten als Wirtschaftsberater in Regierungskreisen und sein Pläuschchen mit einem „Taliban-Führer“. Und dieser Kerl sagt dann einfach mal wie es denn in Kabul so bestellt ist – und zwar aus seiner Sicht. Als einziger eingetragener Sachverständige in Österreich mit all den geo- und rechtspolitischen Interessen im Hintergrund ist es demnach nicht schwierig als vermeintlicher Experte – nicht nur gegenüber der betroffenen Person sondern auch noch ganz nebenbei diametral zu den anderen Berichten zu Afghanistan – dazustehen.

Jetzt ist das sowieso schon ein ziemlich klares Interessens- und Gewaltkonstrukt, was das Asylverfahren angeht. Neben der rassistischen (Verwertungs-)Politik und den ganzen anderen Gemeinheiten innerhalb des Verfahrens werden die Aussagen der betroffenen Personen den „wahren“ Aussagen gegenübergestellt und in „echte“ und „Wirtschaftsflüchtlinge“ eingeteilt. Aber dann kommt da noch dieser Mahringer und treibt das nochmal mehr auf die Spitze, und zwar auf einer richtig schlechten Basis – seinem sogenannten „Gutachten“. Dieses „Gutachten“ wurde nunmehr angegriffen, ein Plagiatsjäger hat sich das mal genauer angesehen und es als Kategorie „Reisebericht“ befunden. Die Werkzeuge des Systems wurden gegen das System selbst eingesetzt – auch das kann eine Methode sein – wenn auch keine grundlegende. Mahringer steht selbst am Prüfstand vor Gericht und es bleibt abzuwarten, ob er als „echter“ oder „falscher“ Gutachter definiert wird. Es ist gut, dass Mahringer selbst am Prüfstand steht – unabhängig davon dass er selbst gar nicht so viel zu verlieren hat. Selbstredend, dass das alles immer noch innerhalb eines Systems passiert, welches dadurch nicht verändert wird – für manche Menschen ändert das jedoch einiges. Der Staat nimmt sich weiter das Recht raus, über das Leben von Menschen zu entscheiden. Die Schreibtischtäter*innen werden sich wieder an die Arbeit machen, die rassistische Politik bleibt, Ausgrenzung und Selektion werden dadurch nicht verhindert. Solche „Expertisen“ sollen dennoch keinen Einzug finden in das ohnehin schon rassistische Gewaltmonopol der Asylbehörden.

Wir haben klar erkannt, dass Gesetze und das „Recht“ nicht für uns geschrieben wurden, sondern zur Festigung der bestehenden Verhältnisse und zum Schutz der herrschenden Ordnung, auch wenn es immer wieder mal Schlupflöcher und Grauzonen gibt, die wir temporär nutzen können. Und dennoch: es ist wünschenswert, sich gegen die Definitionsherrschaft des Staates und seiner Schergen aufzulehnen und diese zu bekämpfen. Und ein – wenn auch sehr beschränktes – Mittel kann sich auf diese Weise gegen die Paragrafen und Verantwortlichen richten, die uns „definieren“ und uns kontrollieren wollen.