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Die österreichische Erstaufnahmestelle für Asylbewerber ist hoffnungslos überfüllt. Kritik richtet sich auch gegen die Schweizer Betreuungsfirma ORS.
In der Nacht hatte es stark geregnet. Dennoch sitzt Hassan am Vormittag unter einem Baum in der feuchten Wiese und starrt auf sein Mobiltelefon. Normalerweise, sagt der junge Afghane, sei das sein Schlafplatz, «aber letzte Nacht öffneten sie die Garagen für uns. So blieben wir wenigstens trocken». Sie – das sind die Verwalter und Betreuer der Erstaufnahmestelle (East) in der kleinen niederösterreichischen Gemeinde Traiskirchen. Wer in Österreich um Asyl ersucht, muss hier durch: zur Registrierung und Erstuntersuchung.
Für 1750 Personen ist die East Traiskirchen ausgelegt. Derzeit schwankt die Belegung zwischen 2500 und 3000 Personen. Theoretisch sollten Asylbewerber auf alle neun Bundesländer gleichmässig aufgeteilt werden. Praktisch erfüllt kaum ein Bundesland (ausser Wien) die Quote, weil sich Landespolitiker und Bürgermeister mit Händen und Füssen gegen die Unterbringung von Flüchtlingen wehren. Deshalb ist für viele Endstation in Traiskirchen.
Der alte Kasernenbau aus dem 19. Jahrhundert platzt aus allen Nähten. Auch die in aller Eile im Garten errichtete Zeltstadt mit 480 Schlafplätzen ist bereits zu klein. 400 bis 700 Menschen müssen in den Fluren, im Freien oder auf Parkbänken übernachten. Von Anfang Januar bis Ende Mai 2015 wurden in Österreich 20’620 Asylanträge gestellt, 183 Prozent mehr als im Vorjahr. Bis Jahresende wird mit 70’000 Anträgen gerechnet. Für den Generalsekretär der Caritas Wien, Klaus Schwertner, sind die Zustände in Traiskirchen «eine Schande für Österreich»: Solche Zustände kenne er sonst nur aus Flüchtlingslagern in Jordanien oder dem Nordirak.
Die FPÖ profitiert
Die Überbelegung des Lagers Traiskirchen ist beherrschendes Thema in Medien und Politik. Der Bau von Zeltstädten signalisierte den Wählern, dass die Regierung das Problem nicht im Griff habe. Das führte zu Erdrutschsiegen der rechtspopulistischen FPÖ in der Steiermark und im Burgenland. Der Versuch des roten Bundeskanzlers Werner Faymann, die Problemlösung auf die Gemeindeebene zu verlagern, endete mit einem handfesten Krach in der grossen Koalition. Im Herbst wird in den Bundesländern Oberösterreich und Wien gewählt. Der Siegeszug der FPÖ scheint unaufhaltbar.
Wie das gesamte Asylwesen gehört die East Traiskirchen zum Kompetenzbereich von Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP). Verwaltet wird sie von der Österreich-Tochter der Schweizer Firma ORS. Humanitäre Organisationen werfen dem Unternehmen mangelnde Transparenz sowie mangelnde Betreuung unbegleiteter Minderjähriger vor. Im Lager leben zwischen 800 und 1200 Jugendliche, die sich ohne Eltern auf den Weg nach Europa machten oder unterwegs von ihnen getrennt wurden.
Manche müssen auf der Wiese schlafen. Er wisse von Fällen, in denen ORS die Zuteilung von Betten verweigert habe, sagt der Geschäftsführer des Flüchtlingsdienstes der evangelischen Diakonie, Christoph Riedl: «Das Personal macht auf uns nicht gerade einen qualifizierten Eindruck. Wenn etwas passiert, schickt ORS die Jugendlichen mit ihren Problemen zu uns.» Die grüne Parlamentsabgeordnete Alev Korun konnte das Zentrum Traiskirchen vor zwei Wochen besuchen und bekam den Eindruck, dass für Jugendliche keine geregelten Tagesabläufe und keine Möglichkeit gibt, Schule oder Deutschkurse zu besuchen: «Die hängen den ganzen Tag im Lager oder auf der Dorfstrasse herum.»
Kinder schlafen auf Steinboden
Alle Asylbewerber erhalten einen Ausweis und dürfen das Zentrum verlassen. Journalisten ist der Zutritt verboten, das Innenministerium begründet das mit dem Schutz der Privatsphäre. In diesem Jahr erhielten lediglich zwei Reporter eine Besuchsgenehmigung. Manche Asylbewerber wie der Afghane Hassan oder der Nigerianer James geben vor dem Lager Auskunft. Sie erzählen von Kindern, die in Gängen auf dem Steinboden schlafen, und über Wartezeiten bis zu zwei Stunden bei der Essensausgabe.
ORS Österreich beantwortet Medienanfragen nicht selbst, sondern leitet sie ans Innenministerium weiter. Dessen Sprecher Karl-Heinz Grundböck sagt gegenüber dem «Tages-Anzeiger», dass das Ministerium mit der Leistungserbringung des privaten Dienstleisters zufrieden sei: In Traiskirchen seien derzeit 130 Mitarbeiter tätig, die sich um Essen, Transport, medizinische und soziale Betreuung kümmerten. Auf die geänderte Situation habe ORS mit der Aufnahme von zehn Mitarbeitern reagiert. Damit sei eine entsprechende Betreuung sichergestellt. Alle Mitarbeiter müssten eine Ausbildung als Sozial- oder Gesundheitspädagogen haben oder über eine mindestens dreijährige einschlägige Arbeitserfahrung verfügen. Warum ORS nicht selbst Auskunft gibt, weiss Grundböck nicht. Das Ministerium habe die Firma nicht zum Schweigen verpflichtet.
Das Innenministerium habe mit dem Schweizer Unternehmen einen Knebelvertrag abgeschlossen, sagt hingegen Caritas-Generalsekretär Klaus Schwertner: «Wir wissen nicht, wie viel Geld ORS für die Betreuung erhält und wie viel Personal pro Flüchtling eingesetzt wird.» Auch Anni Knapp von der Beratungsstelle Asylkoordination Österreich vermisst Informationen von und über ORS, sieht das Problem aber beim Innenministerium, das nur ganz wenige Zahlen und Fakten herausrücke.
Die Zahlen sind Amtsgeheimnis
In der Schweiz ist die ORS Service AG seit 20 Jahren tätig und zum grössten privaten Unternehmen im Asylbereich gewachsen. Mit 600 Mitarbeitern betreut die Firma mehrere Bundesunterkünfte sowie regionale Unterkünfte und Wohngemeinschaften. Gemeinnützige Organisationen wurden aus der Betreuung weitgehend verdrängt, da sie die Leistungen nicht zu denselben Konditionen wie das gewinnorientierte Unternehmen anbieten konnten.
Ende 2011 erhielt die österreichische «ORS Service Gesellschaft» vom Innenministerium den Zuschlag für die Betreuung der Erstaufnahmestellen. Der vorherige Betreiber, European Homecare, hatte sich zurückgezogen, weil er nicht kostendeckend arbeiten konnte. Wie die Schweizer rechnen, ist Amtsgeheimnis. Die Grünen stellten eine parlamentarische Anfrage mit 31 Punkten über ORS an die Innenministerin. Unter anderem fragen sie nach der Finanzierung, nach der Qualifizierung der Mitarbeiter und nach Betreuungskonzepten. Mikl-Leitner muss bis Anfang August antworten. Abgeordnete Korun findet die Privatisierung des Asylwesens prinzipiell problematisch: «Private Unternehmen haben das legitime Interesse, Gewinn zu machen.» Das sei nur durch Minimierung von Kosten und Leistung möglich. ORS betreut mittlerweile auch die Zeltstädte und provisorische Unterkünfte.
Nicht zufrieden mit ORS war die zuständige Behörde in der nahen Bezirkshauptstadt Baden. Sie entzog im Sommer 2014 dem Unternehmen die Bewilligung, in Traiskirchen neu ankommende Asylbewerber zu betreuen. Das Sicherheitskonzept sei mangelhaft und damit «Gefahr in Verzug». Die Rechercheplattform Dossier.at konnte nachweisen, dass die Behörde den Bescheid auf politischen Druck des niederösterreichischen Landeshauptmanns Erwin Pröll (ÖVP) ausstellte, der sich mit harter Haltung in der Asylpolitik profilieren wollte. Der Bescheid wurde nach einem halben Jahr wieder aufgehoben.